Problem von Shane - 20 Jahre

Ich werde sterben.

Hallo,

mein Name ist Shane White und ich werde sterben. Ja, ich meine es ernst. Mir sind vor einer Weile starke Knochenschmerzen und Fieber aufgefallen, hatte ich aber schonmal, also dachte ich mir, wird schon nix Schlimmes sein. Als das dann aber nach einer Woche immernoch da war, bin ich eben zum Arzt gegangen. Und was hat er mir gesagt? Dass ich Leukämie habe. Und zwar in einem weit ausgeprägten Stadium. Mir wurde auch gesagt, dass ich nur noch Wochen zu leben haben werde, weil es zu spät für eine Heilung ist. Ich denke, ich habe mich damit abgefunden. Aber ich weiss nicht, wie ich dass meiner Familie und meinen Freunden sagen soll.

Ich hatte ein sehr schönes Leben, ich hab eigentlich immer Spass gehabt. Mir wurde immer gesagt, dass ich in Musik ein Naturtalent bin, obwohl ich in der Schule immer... relativ schlechte Noten hatte, weshalb ich auch nach der 6. Klasse gehen musste. Ich hab halt nie verstanden, wiem Mathe und Biologie und Physik und wie sie alle heissen funktionieren. Da hab ich mich der Musik gewidmet, und ich hab mir damals innerhalb von 3 Wochen selbst die Gitarre beigebracht, kurz darauf das Bass und hinterher irgendwann auch nach ein paar Wochen das Schlagzeug und irgendwann noch das Piano. Zur Zeit spiele (oder spielte... jetzt sitze ich nur noch in meiner Wohung und denke nach, was ich noch mit den letzten Atemzügen meines Lebens anfangen soll...) Gitarre, Bass, Violine, Geige, Piano, Schlagzeug, Flöte und Mundharmonika. Ich hatte deshalb auch vor, mit ein paar Freunden von mir eine Band zu gründen und ins Musikgeschäft einzusteigen, weil das schon immer meine Leidenschaft war. Aber es sollte wohl nicht sein, denn jetzt werde ich sterben. Vermutlich schon bald, weil es schon eine Woche her ist, dass ich beim Arzt war, wo mir die Diagnose gegeben wurde. Ich komme damit klar, aber ich weiss nicht, wie ich das allen Leuten beibringen soll. Ich will nicht, dass man um mich trauert, weil ich nicht will, dass es anderen Leuten wegen meiner Krankheit schlecht geht. Meine Eltern waren immer so stolz auf mich, haben sich immer über meine Begabung gefreut, und ich glaube, meine Freunde und ich haben uns gegenseitig viel Freude im Leben bereitet. Ich wollte nie, dass ich negativ auffalle und ich ich wollte doch nur ein schönes Leben haben. Wieso muss ich jetzt sterben? Ich bin nicht gläubig, also glaube ich nicht an Schicksale oder den Zorn Gottes. Ich denke, es ist einfach Zufall, dass es genau mich getroffen hat.

Ich weiss nicht, ob es meine Eltern verstehen werden. ich weiss nicht, ob es meine Freunde verstehen werden. Ich verstehe es ja nicht einmal selbst. Ich weiss auch nicht, wieso ich das hier schreibe, weil mein Leben ja eigentlich ohnehin vorbei ist. Deshalb frage ich mich jetzt nurnoch: Wie sage ich es allen, die ich kenne? Und was mache ich noch mit meinem Leben? Sollte ich einfach so weiterleben wie vorher? Ich war nie jemand, der viel nachgedacht hat, aber jetzt... Ich kann mich einfach nicht konzentrieren, was ja auch wohl verständlich ist.

Danke für eure Aufmerksamkeit und Hilfe. Ich weiss nicht, ob ihr das hier beantwortet und wenn ja, ob ich die Antwort noch lese, aber danke.

Shane

Marie Anwort von Marie

Lieber Shane,

das ist das schwierigste Problem, das ich je beantwortet habe. Ich versuch's trotzdem und hoffe, dass du das hier noch rechtzeitig liest.

Ich kann gut verstehen, dass du nicht willst, dass es deinen Freunden und deiner Familie wegen deiner Krankheit schlecht geht. Wenn du es ihnen sagst, werden sie sicher eine ganze Weile brauchen, um mit diesem Gedanken klarzukommen - und du hast Recht, diese Zeit wird bei weitem nicht so unbeschwert sein wie bisher. Es ist deine Entscheidung, ob du das möchtest.
Ich persönlich würde es ihnen wahrscheinlich nicht sagen und versuchen, die verbleibende Zeit noch möglichst unbeschwert zu genießen. Sie werden um dich trauern, wenn du nicht mehr da bist, das kannst du nicht verhindern - aber du kannst vermeiden, dass sie schon trauern, während du noch da bist. Falls du dich dafür entscheidest, könntest du vielleicht eine Art Abschiedsbrief schreiben, in dem du erklärst, warum du dich so entschieden hast - dann können sie es besser verstehen.

Ich überlege mir alle paar Jahre, was ich bisher gut fand an meinem Leben, was ich gern beibehalten würde und was ich bereuen würde, wenn ich jetzt sterben müsste. Ich denke darüber nach, was ich vor meinem Tod noch getan haben möchte und wie ich mein weiteres Leben gestalten will. Das erste Mal, als ich das gemacht habe, habe ich drei Wochen dafür gebraucht - das ist Zeit, die du vielleicht nicht mehr hast, deshalb will ich dir nur sagen, was dabei herausgekommen ist, vielleicht siehst du es ähnlich und kannst etwas für dich daraus mitnehmen. Das Ergebnis meines langen Nachdenkens war paradoxerweise, dass ich nicht so viel nachdenken sollte, und dasselbe möchte ich dir auch raten. Denn das, was das Leben lebenswert macht, sind weniger die Gedanken, die wir haben, als vielmehr die Gefühle. Am Ende geht es darum, möglichst intensiv gelebt zu haben, mit Höhen und Tiefen (wenn es mehr Höhen als Tiefen waren, umso besser). Ich glaube, das schlimmste, was einem passieren kann, ist dass man kurz vor seinem Tod feststellt, dass man über weite Teile seines Lebens nicht wirklich das Gefühl hatte, am Leben zu sein. Deshalb denke ich, dass du so weitermachen solltest wie bisher und weiterhin die Dinge tun solltest, die dich glücklich machen. Vielleicht gibt es auch etwas, das du schon immer mal machen wolltest und das sich auch in relativ kurzer Zeit umsetzen lässt - wenn ja, dann mach es jetzt.
Du schreibst, dass du ein sehr schönes Leben hattest, mit Freunden, einer Familie, die dich liebt und stolz auf dich ist, einem sehr großen Talent, und dass du bisher immer viel Spaß gehabt hast. Ich denke, besser kann man sein Leben nicht nutzen. Du hast wirklich das Beste daraus gemacht. Deshalb: Mach weiter wie bisher.
Tu das, was dich in dem Moment glücklich macht. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.

Es tut mir sehr Leid, dass ich dir nicht eher antworten konnte. Falls du uns noch einmal schreiben möchtest, nutze einfach das Kontaktformular im Impressum - sonst dauert es drei Wochen, bis wir deine Nachricht lesen können.

Ich hoffe, ich konnte dir wenigstens ein bisschen Unterstützung geben. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute.

Marie