Problem von Anonym - 18 Jahre

Folgen sexuellen Mißbrauchs

Liebes Kummerkastenteam,

viele Dank für die Antwort auf mein letztes Problem (beantwortet von Marie).
Ich denke auch, dass es besser wäre, wenn ich ihn erst nach Beendigung meiner Psychotherapie anzeige.

Das wird noch einige Zeit dauern, da wir noch nicht mit der Traumabearbeitung (des sexuellen Mißbrauchs durch meinen 1. Freund) direkt begonnen haben...
und mich zerfrisst die ganze Sache so.
Ich bekomme ein ganz ungutes Gefühl, wenn es dunkel wird (es ist nicht im Dunkeln geschehen) und dann geht es mir immer schlecht bis ich ins Bett gehe. Und obwohl ich müde bin kann ich manchmal vor Hass und Verzweiflung kaum einschlafen und das wirkt sich auch auf andere Aspekte meines Lebens aus.
Ich bin, meiner Meinung nach, viel zu sensibel für viele Dinge geworden.
Auch wenn das Geschehene jetzt schon 4 Jahre her ist, kommen die Erinnerungen und unguten Gefühlen erst jetzt voll auf.

Ich hatte alles fast erfolgreich verdrängt und komme nun nicht damit klar, dass immer nur Bruchstücke der Erinnerungen in mein Bewusstsein gelangen.
Ich finde keine richtige Verbindung mehr und bin mir nicht mal mehr sicher, was wie geschehen ist und ob es so schlimm war.

Ich habe starke Verlustängste (meinen Freund zu verlieren, obwohl dies nicht der Fall ist) und kann mich nicht mehr mit Leuten streiten ohne danach total am Boden zerstört zu sein.
Man kann es fast schon als "harmoniesüchtig" bezeichnen und das stört mich selber sehr.
Alles muss immer okay und stabil in meiner Umgebung sein und wenn nicht, dann bricht meine kleine Welt aus Glas wieder zusammen.

Ich weiß echt nicht, wie ich es schaffen soll eine innere Stabilität aufzubauen, damit ich auch wieder diskutieren kann.
Es kann ja nicht immer alles gut sein in der Welt.
Aber wie soll ich das hinkriegen?

Auch bin ich an manchen Tagen viel zu gereizt und sehe überhaupt keinen Ausweg mehr, alles scheint eben "scheiße" zu sein. Kann das schon eine Depression sein?

Und wenn es mir ganz schlecht geht, dann ritze und beiße ich mich sogar und bereue es danach sofort wieder.

Es ist alles einfach viel zu viel für mich.
Ich möchte dieses Arschloch, was mein Leben zerstört hat nicht einfach ungeschoren davon kommen lassen, aber ich weiß, dass so ein Prozess noch einezusätzliche Belastung darstellen würde. der ich im Moment nicht gewachsen bin.
Ich möchte nur irgendetwas tun....wissen, dass er auch leiden muss und ich nicht die Einzige bin.

Ich bin einfach nur verzweifelt und weiß nicht wirklich, wie ich mir selbst helfen soll.
Kennt ihr da vielleicht eine Möglichkeit?

Ich hoffe ich konntet meinen Text nachvollziehen und antwortet mir, das wäre lieb.

Liebe Grüße

Marie Anwort von Marie

Liebe Ratsuchende,

zunächst einmal: Ich finde es gut, dass du diese Probleme nicht in dich hineinfrisst, sondern dich uns anvertraut hast. Es ist gut und auch total wichtig, dass du darüber redest!

Du hattest ja beim letzten Mal schon geschrieben, dass du eine Therapie angefangen hast.
Hast du mit deiner Therapeutin schon über diese Probleme gesprochen?
Das würde ich sehr wichtig finden, denn schließlich besteht ihre Aufgabe neben der eigentlichen Traumaverarbeitung auch darin, zunächst einmal mit dir zusammen Wege zu finden, wie du mit diesen Folgen des Missbrauchs besser umgehen kannst. Dazu zählen Dinge wie z.B. was du tun kannst, wenn es dir so schlecht geht, dass du dich selbst verletzen willst, oder auch bestimmte Entspannungsübungen, die dir z.B. beim Einschlafen oder allgemein beim Umgang mit negativen Gefühlen helfen können. Solche Dinge gehören in die Therapie, und genau dort solltest du sie auch ansprechen.

Normalerweise kommt am Anfang einer Traumatherapie erst einmal eine sog. Stabilisierungs-Phase. Sie ist Voraussetzung für die eigentliche Traumaverarbeitung und entspricht auch genau dem, was du dir im Moment selbst wünschst. Und sie ist notwendig, denn nach solchen Erfahrungen, wie du sie erleben musstest, ist es ganz normal, dass die innere Stabilität erst einmal ins Wanken gerät - manchmal direkt danach, aber oft auch erst nach vielen Monaten oder Jahren, wie es bei dir der Fall ist.
Es ist ganz wichtig, dass du dir bewusst machst, dass nichts von dem, was du im Moment erlebst, irgendwie "unnormal" oder "gestört" ist, im Gegenteil: es wäre unnormal, wenn diese Erlebnisse einfach so an dir vorbeigegangen wären, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Versuche, nicht ganz so streng mit dir selbst zu sein. Es ist vollkommen normal und verständlich, dass du im Moment sensibler und harmoniebedürftiger bist als sonst und Angst hast, deinen Freund zu verlieren. Im Moment braucht deine Seele einfach diese äußere Stabilität, um mit den Erinnerungen, die sich nicht mehr verdrängen lassen und sich immer stärker aufdrängen, umgehen zu können.
Du wirst auch wieder lernen, dir diese Stabilität, die du dir wünschst, selbst geben zu können, aber das braucht Zeit. Hab Geduld, nimm dir diese Zeit. Versuche, nachsichtiger mit dir selbst zu sein. Alles, was du im Moment fühlst, ist okay und hat seine Berechtigung!

Auch, dass sich immer nur Bruchstücke der Erinnerungen aufdrängen und dass du dir nicht sicher bist, was wie passiert ist, kommt nach solchen schlimmen Erlebnissen sehr oft vor. Auch das ist eine Aufgabe der Therapie: Die fehlenden Bruchstücke wiederzufinden und diese Erinnerungen wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Denn erst dann kannst du sie als "Vergangenheit" abspeichern, ohne dass sich die Erinnerungsfetzen immer wieder aufdrängen.

Dass es dich fertig macht, dass dein Ex-Freund einfach so weiterleben kann und nicht leiden muss und dass du diese Wut nicht an ihm auslassen kannst, kann ich sehr gut verstehen!
Vielleicht hilft es dir, dir immer, wenn diese Wut aufkommt, zu sagen: Er wird nicht ungeschoren davonkommen. Er wird leiden für das, was er mir angetan hat. Das wird vielleicht nicht heute oder morgen sein, aber er wird bestraft werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Vielleicht gelingt es dir auch, diese Wut gegen ihn als eine Kraftquelle für dich zu nutzen (z.B. für Sport oder körperliche Arbeiten, oder für etwas Kreatives) und sie dadurch in etwas Positives zu verwandeln, etwas, das dich nicht von innen zerfrisst, sondern dir Kraft gibt.

Wenn du magst, kannst du auch mal auf diese Seite schauen: http://hab-keine-Angst.de
Unter "Hilfe" -> "Tipps für Betroffene" findest du viele sehr gute Tipps und Strategien, wie du mit den Folgen des Missbrauchs besser umgehen kannst. Probiere die verschiedenen Sachen ruhig alle mal aus und finde heraus, was dir persönlich gut tut.

Und denke immer daran: Es wird vorbeigehen. Es wird eine ganze Weile dauern, aber du kannst ganz sicher sein, dass es mit der Zeit besser wird.
Ich wünsche dir dafür alles Gute und ganz viel Kraft!

Viele liebe Grüße,
Marie