Problem von Aviva - 14 Jahre

Meine Eltern wollen auswandern

Hallo liebes Kummerkasten-Team,

ich hab ein großes Problem: meine Eltern wollen nach Israel auswandern. Sie fühlen sich in Deutschland nicht mehr wohl, mein Vater und vor allem mein großer Bruder werden teilweise ziemlich heftig beschimpft und ihnen wird gedroht, weil sie die Kippa tragen (wir sind Juden).
In der Klasse meines Bruders sind sehr viele muslimische Jungen und die mobben ihn immer. Trotzdem will er nicht Schule wechseln. Ich gehe seit diesem Schuljahr auf eine jüdische Schule (da gehen aber auch nicht-jüdische Kinder hin), weil ich es satt hatte, dass sogar Lehrer Vorurteile gegen uns Juden hatten und auch weil sich manche meiner Mitschüler immer über meinen Glauben lustig gemacht haben.
Meinem Vater wurde jetzt ein Job in Sderot angeboten, und da wohnen auch meine Großeltern und Cousins und so, deshalb wollen meine Eltern und mein Bruder unbedingt dorthin ziehen.
Ich habe aber Angst, weil in Israel Krieg ist. In den Ferien fahren wir immer nach Israel und dann gibt es manchmal so Warnsirenen, wenn ein Luftangriff ist. Dann muss man in ca. 15 Sekunden in einem Bunker sein. Einmal waren meine Cousine und ich alleine auf der Straße als so eine Sirene kam und dann sind wir ganz schnell in einen Bunker an einer Bushaltestelle gerannt. Ich bin vor Angst fast wahnsinnig geworden und habe seitdem immer wieder Alpträume, dass ich ganz alleine bin und dann eine Sirene losgeht.
Ich hätte kein Problem damit, wenn wir in eine andere Stadt in Israel ziehen würden, aber Sderot ist direkt an der Grenze zum Gazastreifen und ich hab echt Angst. Da sind in den letzten Jahren immer mal wieder Menschen bei Angriffen getötet worden. Aber meine Familie will halt nahe an meinen Verwandten sein und wenn überhaupt erst später vielleicht mit allen anderen in eine andere Stadt ziehen.
Ich sage meiner Familie jeden Tag, dass ich da nicht hinziehen will und so, aber die denken, ich sag das nur, weil ich nicht von meinen Freunden hier weg will. Und ich traue mich auch nicht, ihnen von den Alpträumen zu erzählen, das kommt so kleinkindmäßig rüber.
Was soll ich jetzt machen? Ich kann doch mit 14 nicht alleine in Deutschland bleiben, oder? Weil ich hab hier auch keine Großeltern oder so, zu denen ich ziehen könnte. Ich hab so Angst, dass wir wirklich irgendwann umziehen:(

Liebe Grüße,
Aviva

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Aviva,

als Deutscher macht es mich sehr traurig, zu lesen, dass ihr euch in Deutschland nicht mehr sicher fühlt. Ich kann nur hoffen, dass Berichte wie deiner für viele Menschen ein Denkanstoß sein werden. Natürlich kann es sein, dass es euch als Juden nicht überall in Deutschland so ergehen würde (ich weiß nicht, wo ihr wohnt). Fakt ist aber, dass ihr ausgegrenzt und abgelehnt werdet, und das ist auf jeden Fall entsetzlich. Und es gibt keine Entschuldigung dafür.

Den Wunsch deiner Familie, nach Israel auszuwandern, finde ich nachvollziehbar. Genauso ernst muss man allerdings deine Ängste und Alpträume nehmen, denn: Ihr würdet ja schließlich nicht auswandern, um von einer Misere in eine größere zu geraten? Hier in Deutschland musst du dich mit Vorurteilen auseinandersetzen, mit Mobbing; aber kann es im Sinne deiner Eltern sein, wenn du dort auf andere Weise geplagt wirst? Damit wäre ja kaum etwas gewonnen. Ich glaube dir, dass es nicht leicht ist, darüber zu sprechen. Aber es wäre wirklich gut, wenn du versuchen könntest, über deinen Schatten zu springen, und deinen Eltern davon zu berichten. Sie werden dich mit Sicherheit ernst nehmen - es ist ihnen ja selbst bewusst, dass man in Israel nicht ungefährlich lebt. Und wenn ihr euch erst einmal fest dort niedergelassen habt, werden ja Herausforderungen auf dich / euch zukommen, die ihr jetzt noch gar nicht absehen könnt: Wie gut kommt dein Vater in seinem neuen Job zurecht? Wie klappt es bei euch in der Schule? Wie mit Nachbarn, neuen Bekannten? Und nicht zuletzt: Der Schmerz um deine Freunde hier in Deutschland! All das sind große Aufgaben, die man nicht einfach mal so wegsteckt. Wenn dich zusätzlich noch die Angst vor den Angriffen plagt, und dich bis in deine Träume verfolgt, mag es dir umso schwerer fallen, dich einzufinden. Darüber sind sich gewiss auch deine Eltern im Klaren - und ihr werdet gemeinsam nach Lösungen suchen. Voraussetzung ist, dass du dich öffnest, und es ihnen erzählst. Klar, es kommt einem vor, als sollten nur Kleinkinder solche Ängste haben. Doch das stimmt nicht. In jedem Alter kann es einen treffen - und hier geschieht es ja nicht ohne Grund! Ich kann dich nur ermutigen, dich zu trauen. Du hast weder etwas zu befürchten, noch wirst du in den Augen deiner Eltern unreif und schwach erscheinen. Sie selbst haben ihre Zweifel und Ängste, davon bin ich überzeugt.

Ich habe niemals längere Zeit in einem Kriegsgebiet verbracht, und ich ziehe den Hut vor der Überlegung, dort zu leben. Es muss schlimm um Deutschland stehen, wenn dieser Gedanke so konkret wird. Allerdings ist - so krass das klingt - auch die Bedrohung durch Angriffe für die Israelis vermutlich Alltag. Das heißt nicht, dass sie nicht mehr vorsichtig wären, bisweilen ängstlich. Aber mit jeder Gefahr lernt man zu leben, sodass sich sogar eine Art von Normalität einstellt, wenn es jeden Tag plötzlich zum Beschuss kommen kann. Das macht die Umstellung für dich nicht leichter. Ich kann dir auch nicht wirklich sagen, ob es für dich eine Alternative gibt, nachdem eure Verwandten in Israel leben. Mein erster Gedanke war, ob es sinnvoll sein könnte, innerhalb Deutschlands umzuziehen. Doch ich weiß nicht, ob das eine Lösung ist, ob ihr nicht wieder mit denselben Problemen zu kämpfen hättet. (Traurig, aber wahr!) Und je nachdem, wo ihr dann wärt, musst du dich wiederum umstellen, neue Schule, neue Klasse, Entfernung von den alten Freunden... ach Gott. Da begreife ich, dass deine Eltern lieber den radikalen Weg gehen möchten. Verzeih mir, wenn ich ein wenig abdrifte. Ich bin traurig und wütend, dass man euch in diese Situation gebracht hat.

Grundsätzlich rate ich dir: Suche das Gespräch mit deinen Eltern. Sie wissen, wie schwer das ist, und für sie ist es nicht anders. Ich glaube nicht, dass sie deine Schwierigkeiten allein darauf schieben werden, dass du aus deinem Freundeskreis gerissen wirst. Denn die andere Angst betrifft euch alle, und sie ist nicht gegenstandslos. Ich traue dir zu, deine Gedanken so deutlich und logisch zu schildern, wie du es hier getan hast. Dafür musst du eben aufs Ganze ausholen, und nicht nur sagen, dass du nicht weg willst, sondern nichts auslassen - einschließlich der Alpträume. Falls du trotzdem glaubst, dass sie es nicht ernst nehmen - vielleicht nach dem Motto: "Jetzt probiert sie es auf die Tour!" (was ich nicht glaube!): Dann empfiehlt es sich jemanden hinzu zu nehmen. Vielleicht eine Bekannte oder Freundin von dir - oder eine Lehrerin, der du vertraust.

Es bleibt dabei, dass ich persönlich eher ratlos bin, was jetzt die beste Lösung ist: Mag sein, dass sich in ein, zwei Jahren die Dinge geändert haben. Dass ihr vielleicht dann besser zurecht kommt, dass dein Vater an einem anderen Arbeitsplatz glücklicher wäre - hier in Deutschland. Aber es geht letztlich darum, wie ihr euch jetzt fühlt, wie ihr jetzt behandelt werdet, nicht aus irgendeiner Unsympathie, sondern weil ihr jüdischen Glaubens seid. Und das zu unterstreichen, wäre eben auch eine Folge eures Umzugs: Wie soll es den Juden, die hier bleiben, besser gehen, wenn man auf das Problem nicht aufmerksam wird? Oder den (nicht wenigen) Israelis, die heute nach Deutschland kommen? Auch das ist also ein gewichtiger Grund für die Auswanderung - man duckt sich nicht weg, man fordert sein Recht. Schließlich hat dieses Land den Anspruch verkündet, dass es seinen jüdischen Bürgern gut gehen soll.

Ob irgendeine Möglichkeit existiert, wie du sonst hier bleiben könntest - ich kann es dir nicht sagen. Dürfte ich auch nicht, da wir keine Rechtsberatung leisten dürfen. Nur wirst du ja nicht glücklich werden können, ohne deine Familie - oder? Ob ihr doch hier bleibt, oder auswandert, am besten geht ihr den Weg zusammen. Denn die Familie ist das, worauf man sich am meisten und immer verlassen kann. Du bist in keiner einfachen Lage - ich habe Respekt vor dir, dass du es so mit Fassung trägst. Welche Optionen es noch gäbe, wenn es die gibt, muss allerdings auch besprochen werden. Du siehst, dass du nicht darum herum kommen wirst, dich in einer ruhigen Stunde mit deinen Eltern - oder auch nur einem Elternteil - hinzusetzen, und es ausführlich zu bereden. Wobei ich denke, dass sie auch das Ganze nochmal auf den Tisch holen werden, wenn die Planung konkret wird.

Es gibt immer solche und solche, und man wird nie ganz ohne Konflikte leben können. Auch bei uns scheinen die Vorurteile gegen Juden wieder zuzunehmen - was nicht heißt, dass nicht der größte Teil der Menschen so etwas schlimm findet. In Israel werdet ihr damit zwar nicht zu kämpfen haben, dafür jedoch gibt es ganz andere Risiken. Und auch diese werden nicht von heute auf morgen verschwinden. Die Wahl, die ihr treffen möchtet, ist also keine einfache - denn ein ganz sorgenfreies Leben kann es leider nicht geben. Deine Ängste sind Ausdruck dieses Bewusstseins, sie sprechen dafür, dass du überlegt und reif mit der Situation umgehst. Und eben überhaupt nicht kindisch. Das werden deine Eltern sicher einsehen.

Mein Wunsch für euch wäre natürlich, dass sich hier die Dinge für euch beruhigen, dass ihr hier bleiben könnt. Wenn es aber nicht geht, dann wünsche ich euch für euren Weg - welcher das auch sein wird - alles Gute! Lass dich niemals unterkriegen, sprich deine Gefühle aus, und wäge alles so gewissenhaft ab, wie du es bis jetzt getan hast. Daran nämlich erkennt man, wie scharf du es in Wirklichkeit analysierst. Es gibt nicht den perfekten Ausweg. Aber ganz gleich, für welchen ihr euch entscheidet: Es ist auch dein persönlicher, eigener. Und du hast allen Grund und alles Recht, ihn mitzugestalten.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul