Problem von Julian - 16 Jahre

Ich bin der schlechteste Freund der Welt

Ich hab ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich gemein und unfair zu meinem besten Freund war und jetzt ist sein Vater gestorben und er möchte nicht mit mir reden.
Ich bin eigentlich schon seit meiner Geburt mit ihm befreundet, weil mein Vater und sein Vater auch beste Freunde sind. Ich war schon immer richtig schnell eifersüchtig auf ihn und hab ihm nichts gegönnt, aber er hätte mir immer alles gegeben und das hab ich auch immer schon ausgenutzt. Ich schäme mich so. Er hat das größte Herz, das es gibt und hat mich über alles geliebt und ich bin so ein Trottel. Er hat mich nie verpetzt oder so und ich hab sogar mal behauptet er hätte so eine Hütte angezündet, dabei war ich das! Und er hat nie jemanden erzählt, dass ich das eigentlich war. Ich hab ihn immer ausgelacht, wenn er etwas nicht konnte und hab mich gefreut, aber wenn ich was nicht konnte hat er so lange mit mir geübt, bis ich es konnte. Er ist so ein guter Mensch und ich im Gegensatz gar nichts wert.
Also, auf jeden Fall lief das alles so weit gut, bis er mir gestanden hat, dass er schwul ist und sich in einen Jungen verliebt hat. Ich fand das ganz cool irgendwie, ich hab nichts gegen Schwule oder so, aber als das langsam wirklich was mit dem Jungen wurde, da wurde ich richtig eifersüchtig. Ich habs ihm einfach nicht gegönnt, aber er war so glücklich. Und weil ich so ein Arschloch bin wollte ich ihm das einfach vermiesen. Aber die beiden sind wirklich einfach für einander geschaffen, was mich immer wütender gemacht hat.
Irgendwann hab ich angefangen unsere Freunde gegen ihn zu hetzen. Also ich hab behauptet er macht sich über sie lustig, wenn wir zu zweit sind und so. Irgendwann hatte ich alle so weit, dass sie richtig aggro gegen ihn waren und ihn beschimpft und gedroht haben. Ich musste nur sagen: „Er trinkt ja nicht mal Alkohol.“ und alle sind wieder auf ihn losgegangen und haben ihn nie wieder zu Partys eingeladen, weil er dafür zu „uncool“ ist, weil er eben nicht trinkt und raucht. Seit dem hatte ich auch keinen richtigen Kontakt mehr zu ihm, nur wenn er hier mit seinem Vater zu Besuch war oder er hat mir manchmal Nachrichten geschrieben, die ich meistens gekonnt ignoriert hab. Ich weiß, dass er darunter richtig litt. Ich hab Gespräche unserer Väter gehört, da sagte sein Vater, dass er eine Zeit lang nicht mehr geredet und nur noch geweint hat, weil er sich von seinen Freunden so verraten gefühlt hat. Die beiden wussten auch, dass ich nicht zu ihm gestanden hab, und haben mich oft ihre Abneigung in der Sache spüren lassen. Aber mir war das egal, ich hab mich eigentlich gut gefühlt. Er war eigentlich immer so ein Anhängsel von mir, zu schüchtern um sich selber Freunde zu suchen. Und ich hab mich „befreit“ von ihm gefühlt. Mittlerweile fühl ich mich so scheiße deswegen!
Sein Vater kam vor einer Woche ins Krankenhaus, weil er am Herzen operiert werden musste. Er hatte panische Angst, dass sein Vater stirbt und hat sich tausend Horrorszenarien ausgemalt. Er wohnt alleine mit seinem Vater und weil er unbedingt zu Hause bleiben wollte und nicht zu seiner Mutter, ist mein Vater über die Zeit bei ihm geblieben. Ich wusste, dass er mich gebraucht hätte, weil er einfach so fertig war vor Angst.
Aber vor ein paar Tagen, auf einer Faschingsparty, haben die Leute wieder angefangen über ihn zu lästern. Ich war gut dabei und hab dann irgendwann einfach gesagt: „Er ist übrigens schwul.“ Das war das gefundene Fressen, alle haben sich da drauf gestürzt und lustig gemacht. Irgendwer fand es mega lustig, ihm Nachrichten zu schreiben, dass es jetzt alle wissen, wie lächerlich er ist und dass Schwule eklig sind. Also haben wir ihm alle Nachrichten geschrieben. Die ersten Nachrichten hat er noch gelesen, aber dann hat er sein Handy ausgemacht oder uns blockiert. Ich fühl mich so schuldig und der Alkohol ist dafür keine Entschuldigung. Er hätte mich echt gebraucht und das einzige was ich mach, ist es noch schlimmer zu machen. Er weiß natürlich, dass ich das erzählt hab, weil ich der einzige bin (abgesehen von unseren Familien), der es weiß.
Heute kam mein Vater mit ihm zu uns nach Hause und sagte, sein Vater wäre im Krankenhaus gestorben. Es war auch für mich ein riesen Schock! Alle sind total fertig hier und ich komm nicht klar mit meinem schlechten Gewissen. Ich fühl mich so scheiße! Wie konnte ich das alles meinem „besten Freund“ antun!? Und jetzt das, ich kann mir nicht vorstellen, dass es je einem Menschen schlechter ging als ihm. Keine Freunde, keinen Vater und mich überhaupt zu kennen. Klar bin ich richtig traurig über den Tod, ich hab den Mann fast jeden Tag gesehen, mein Vater und er waren fast wie siamesische Zwillinge. Aber ich sitz jetzt hier und heul viel mehr darüber, was ich für ein schlechter Mensch bin und jemand anderem so etwas antun kann! Ich hab meinen Vater auch noch nie so fertig erlebt und er hat mich vorhin angeschrien, ob ich nicht endlich mal über meinem verdammt lächerlichen Stolz stehen kann und gefälligst mal zu meinem Freund gehen soll. Dann bin ich zu ihm gegangen, aber er hat nur „Verpiss dich scheiß Wichser!“ gesagt und sich weggedreht. Sowas hat er noch nie zu mir gesagt, er hätte bis gestern immer noch alles für mich gemacht, ich hätte nur mit dem Finger schnipsen müssen. Aber seit jetzt ist das vorbei. Ich fühl mich richtig schlecht. Ich kann einfach nicht glauben was ich aus ihm gemacht hab. Früher hab ich mich drüber lustig gemacht, dass er keine Schimpfwörter sagen kann ohne verlegen zu sein und jetzt sagt er sowas zu mir! Ich hab Angst sein gutes Herz kaputt gemacht zu haben, also ich weiß, dass man das jetzt noch nicht sagen kann, aber er hat doch so scheiß Erfahrungen jetzt gemacht wegen mir. Wer kann denn da noch an das Gute im Menschen glauben? Ich war so oft eifersüchtig, weil ich immer dachte mein Vater mag ihn lieber als mich, aber wie könnte man den auch so ein egoistisches Arschloch wie mir im Gegensatz zu dem besten Menschen der Welt lieber mögen? Es ist Tatsache, dass er der Sonnenschein meines und seines Vater war, und das macht mich grad auch wieder sauer. Ich versteh mich nicht! Wie kann man so rücksichtslos sein?! Ich bin es gar nicht wert mit ihm befreundet zu sein. Ich weiß nicht, ob ich es irgendwie schaffe, ihn zu trösten und seine liebe Art zu retten. Oder ob ich mich einfach jetzt wirklich fernhalten sollte von ihm, was für ihn wahrscheinlich besser wäre. Ich hab Angst, wenn er mir wieder vertraut, dass ich ihn wieder so hintergehe. Ich bin der schlechteste Mensch der Welt und hab den besten Menschen der Welt zerstört.

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Julian,

ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, hier auf dein schlechtes Gewissen noch eins draufzusetzen. Eines nur will ich sagen: Ich verstehe wirklich nicht, warum du diesen Menschen als deinen Freund bezeichnest. Ihr seid keine Freunde, er hat keinen Grund, dir zu vertrauen.

Nun ist gut. Julian, wenn du wieder mit ihm ins Gespräch kommen willst, muss dir klar sein, dass "beste Freunde" für euch vermutlich ein vergangenes Kapitel ist. Selbst wenn er einsehen kann, dass du dich geändert hast, wird er wahrscheinlich nicht mehr das Vertrauen zu dir haben, dass man einem besten Freund gegenüber hat. Auch gegenüber besten Freunden hat man Vorbehalte, kann man Geheimnisse haben - auch unter besten Freunden streitet man sich. Aber in die Rolle des Menschen, von dem er nach dem Tod eines Elternteils getröstet werden möchte, wirst du für ihn wohl nicht mehr kommen.

Du hast geschrieben:

"Ich hab Angst, wenn er mir wieder vertraut, dass ich ihn wieder so hintergehe. Ich bin der schlechteste Mensch der Welt und hab den besten Menschen der Welt zerstört."

Wenn du dir diese Frage ernsthaft stellst, Julian, solltest du dir zugleich auch die Frage stellen, ob irgendein Mensch, den du je deinen Freund nennen wirst oder genannt hast, dir vertrauen kann. Freund ist doch ein Begriff, der genau das meint, oder? Menschen mögen unterschiedliche Vorstellungen haben, was ein Vertrauensbruch ist und wo er anfängt. Jedoch herrscht wohl weitgehende Einigkeit darüber, dass dein Freund etliche von dir erfahren hat. Und es wird sich keine hinreichende Rechtfertigung finden, warum man so etwas tun sollte. Du hast das erkannt. Deswegen ist es trotzdem nicht ohne Hintergrund passiert. Also, stell dir doch lieber die Frage: Was hat dich dazu bewegt, ihn im Stich zu lassen, ihn zu demütigen? Wolltest du deinen Kopf aus der Schlinge ziehen? Wolltest du gut da stehen, Eindruck machen? Wolltest du einfach den Kopf freihaben, dich nicht um ihn kümmern müssen? Das alles sind Gründe. Keine edlen, aber menschliche. Der Geist ist stark, das Fleisch ist schwach, wir wissen das. Dein Geist, das war in diesem Fall dein Wissen, dass er nichts getan hat, dass er einfach ER ist, und er deine Hilfe gebrauchen kann. Dein Fleisch, das war dein Drang, zu entkommen, beliebt zu sein, dich nicht rechtfertigen zu müssen, deine Mühe klein und deinen Gewinn groß zu halten. Aber wenn du das vorziehst, wo immer du im Leben stehst, und dich als unverlässlich, unbelastbar, wankelmütig und unsolidarisch erweist - was wird dir dann bleiben? Wo wirst du wirkliche Wärme finden, wenn du nicht bereit bist, Opfer zu bringen?

Du triffst hier nicht allein eine Entscheidung über deinen Freund. Du kannst nämlich nicht viel mehr tun, als ihm zu vermitteln, dass es dir leid tut - ob du es ihm sagst, ihm schreibst, das kommt aufs Gleiche hinaus. Die Wirkung, die du erzielen willst, hängt nicht so sehr davon ab, welche Worte du wählst, sondern davon, ob es schon zu spät ist - oder eben nicht. Überlasse ihm die Entscheidung. DU triffst nämlich eine für dein ganzes Leben, die noch weiter reicht als bis zu dem Punkt, an dem du vielleicht deinen einstmals besten Freund verlierst: Die Entscheidung, welche Prinzipien du haben willst.

Angenommen, meine Mutter stirbt und mein Vater findet nach ein paar Jahren eine neue Liebe, die bloß zwanzig Jahre jünger ist: Akzeptiere ich das, weil ich weiß, dass mein Vater sein Lachen wieder gefunden hat - oder wehre ich mich, weil ich weiß, dass es für mich weniger zu erben gibt? (Von dem Geld hätte ich mir vielleicht einen lang gehegten Traum erfüllt!) Angenommen, hunderttausende Menschen, deren Häuser im Bombenhagel zerstört sind, wünschen sich in Deutschland Aufnahme zu finden: Stimme ich zu, weil ich weiß, dass sie andernfalls elend umkommen könnten - oder will ich es nicht, weil mir erst da aufgeht, dass Menschenrechte ja auch für Leute gelten, die einen anderen Glauben haben als ich? (Und ich weiß sehr wohl, dass das Zusammenleben mit ihnen schwierig werden kann!) In beiden Beispielen gibt es keine win-win-Möglichkeit. Moral bringt Seelenfrieden, aber sie kauft auch Risiken ein - das hat nie jemand bestritten. Egoismus dagegen bringt Sicherheit, aber auch einen bitteres Herz - das kann man wohl sagen.

Sag nichts von wegen "Ich bin gar nichts wert!" - denn das ist nicht wahr, Julian. Du hast Fehler gemacht. Und keine kleinen. Punktum. Aber was heißt das jetzt? Heißt es, dass du für alle Zeiten zum Ekel mutiert bist? Nein. Denn du hast deine Fehler eingesehen. Weder kannst du sie rückgängig machen, noch weißt du, ob dir verziehen wird. Aber wenn du jetzt eine Wendung einlegst, und ein Mensch mit Prinzipien wirst, dann kannst du für die Zukunft nur gewinnen. Ob dazu auch dein bester Freund gehört, weiß ich nicht - doch es lohnt sich auf jeden Fall.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul