Problem von Lucy - 14 Jahre

Hilfe

Ich habe starken Selbsthass und das schon ungefähr ein halbes Jahr lang.Ich hasse alles an mir und habe das Gefühl im falschen Körper zu stecken, da ich weder ein Mädchen, noch ein Junge sein möchte.Ich fühle mich wie kein Geschlecht, kann jedoch mit niemandem über dieses Problem reden, weil ich Angst habe, wie immer, dafür ausgelacht zu werden.Vor wenigen Wochen habe ich mich vor Freunden und Familie als pansexuel geoutet und einige meiner Freunde meinten, dass es nur eine Phase wäre.Außerdem möchte ich niemanden mit meinem Problem belasten, weil ich von mener Freundin anders behandelt wurde, nachdem ich ihr von meinem Selbstverletzen erzählt habe (dafür gibt es noch viel mehr Gründe als die genannten).
Ich habe bei dem Thema einfach Angst und weiß nicht weiter.

Nuala Anwort von Nuala

Hallo Lucy!

Ich danke dir, dass du dich dazu entschlossen hast, uns von deinem Kummer zu berichten.
Du befindest dich ganz klar in einer schweren Lebenslage. Daher möchte ich dich ermutigen, zu dir zu stehen und dich bestärken, dich nicht selbst anzuzweifeln, auch wenn dir das in deiner aktuellen Situation unglaublich schwer fallen muss. Du_bist_genau_so_ gut_wie_ du_bist! Genauso wunderbar, liebenswert und faszinierend wie alle anderen Menschen auch! Du hast an dir eine wichtige Seite entdeckt und legst diese immer mehr frei. Das ist ein enormer Prozess. Auch ein schmerzhafter, weil du merkst, dass du nicht automatisch so angenommen wirst, wie du es möchtest. Dennoch ist es richtig, dass du dich selbst erkennst und schrittweise lebst, wie es für dich gut ist.

Wir haben leider enorm besch... Bedingungen um uns herum: Intoleranz allerorten, ein sehr starres Mann - Frau - Bild und wenig Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen. Das ergibt sich die Notwendigkeit, die Leute immer wieder zu konfrontieren. Verstecken kann nicht die Lösung sein! Von Vielfalt profitieren am Ende alle Menschen, denn jeder Mensch hat etwas an sich, was einzigartig ist und das in keine Schublade passt. Gerade bei den Polen Frau - Mann sollte eigentlich bei näherer Betrachtung auffallen, dass es so viel mehr gibt und allein das sexuelle Begehren nicht zu 100% in eine bestimmte Richtung gehen muss.

Ich verstehe dich auch aus persönlichen Gründen. Nicht nur, was deine Queerness angeht, sondern auch, weil ich selbst nicht nur einmal zu hören bekam: "Das ist nur eine Phase..." und dazu ein mitleidiges Lächeln. Ganz toll. Und natürlich sind diese "Phasen" nicht vorbei - bzw. finde ich es ein Unding, das immer auf die Pubertät zu schieben und lächerlich zu machen. Jeder Mensch muss ernstgenommen werden, egal ob er zwei Jahre, 14 oder 35 ist. Manchmal frage ich mich echt, warum es so schwer ist, gut miteinander umzugehen!

Du hast offenbar derart viel Intoleranz und Unverständnis erleben müssen, dass du nun seelisch leidest. "Selbsthass" ist ein starker Begriff, doch ich glaube dir, dass du mittlerweile so weit bist. Ist ja auch nachvollziehbar: Wenn scheinbar alle um einen herum etwas Anderes vorleben und dir vermitteln, dass das einzig Wahre und Richtige sei, beginnst du logischerweise an dir zu zweifeln...
Es gibt auch eine andere Möglichkeit: Der Umwelt den Vogel zeigen und sich selbst nicht zu verleugnen. Aber bis du das tun kannst, brauchst du dringend Unterstützung. Daher schlage ich dir eine dreifache Strategie vor:
1. Austausch, Vernetzen, Rausgehen! Dazu zählen folgende Punkte:
- Zunächst in deinem näheren Umfeld nach Gleichgesinnten suchen. Wie ich auch unter Punkt 2 ausführe: Eine gewisse Offenheit bei den richtigen (!) Personen ist die Voraussetzung. Denn nur wenn ihr gegenseitig offen und ehrlich seid, können sich Vertrautheiten und eine gewisse Verschworenheit entwickeln. Das kann übrigens auch jemand sein, mit dem du nicht direkt befreundet oder näher bekannt bist. Aber angenommen, du hast jemanden in deiner Parallelklasse, der:die z.B. offen damit umgeht, lesbisch/schwul/trans/bi oder genderqueer/fluid zu sein, kannst du dich an diese Person wenden. Auch wenn ihr sonst vielleicht nicht so viel gemeinsam habt. Eine Verbindung kann auch über so eine Gemeinsamkeit entstehen. Auch eine Lehrerin, ein Sozialarbeiter etc. können in Frage kommen. Achte darauf, wie und was sie sagen. Zeigen sie sich z.B. im Unterricht offen für diese Themen? Benutzen sie einschlägige Begriffe? Das deutet darauf hin, dass sie (etwas) Bescheid wissen und sich ggf. selbst in dieser Position sehen.
- Gehe zu Treffen in Jugendzentren, Stadtteilzentren und zu anderen Angeboten für queere Jugendliche.
- Lebst du auf dem Land oder willst dich erstmal vor allem via Internet mit Gleichgesinnten zusammentun, empfehle ich dir LGBTQ - Gruppen, Foren und Chats. Dort solltest du aktiv mitschreiben oder zumindest viel lesen und dir ggf. Unterstützung suchen. Lass dir Tipps geben, lies Erfahrungsberichte, lass die Community an deinen Sorgen teilhaben. Es macht unglaublich viel aus, sich mit Menschen auszutauschen, die bereits Ähnliches erlebt haben oder gerade erleben! Sie können dir wahrscheinlich die allerbeste Rückendeckung bieten und dich ermuntern, stärken und dir zu Selbstliebe verhelfen! Denn deine Wahrnehmung, dein Blick auf dich selbst ist ja gerade verschoben. Andere Queers können dir beistehen und dich liebend betrachten, sodass du allmählich selbst wieder im Stande bist, dich liebevoll anzunehmen.
2. Sozialkontakte überprüfen und ggf. strikt ausmisten:
- schau dir deinen aktuellen Freundes - und Bekanntenkreis an. Wer ist wirklich vertrauenswürdig? Mit wem kannst du über sehr persönliche Dinge sprechen? Wer hat dir schon etwas Privates anvertraut? Bei wem kannst du dich sicher und geborgen fühlen? Das sind die Leute, an die du dich nun vor allem wenden solltest. Du brauchst sozialen Rückhalt, also bitte trau dich und sprich über deine Gedanken und Gefühle. Scheue dich nicht, jemandem zu zeigen, dass du momentan ein offenes Ohr brauchst und es dir einfach schlecht geht. Manche können es schlicht nicht wissen. Daher sind direkte Ansprachen sinnvoll. Nur so wirst dich erleichtern und dich langsam daran gewöhnen können, zu deiner Identität außerhalb der Mann-Frau - Kiste zu stehen.
- wer aus deiner Familie oder Verwandtschaft hat dich bisher halbwegs respektvoll behandelt und dir zugehört? Auch hier: Gehe auf diese Person(en) zu und versuche, bei ihnen Unterstützung zu bekommen.
- Vermittle deinen Eltern wieder und wieder, dass du mittlerweile wirklich psychisch am Ende bist und sie dich gefälligst ernst nehmen sollen! Und wenn es dir unendlich schwer fällt, nenne ihnen Beispiele, wie du dich fühlst, damit sie das Ausmaß besser kapieren, z.B. "Wenn ihr mich als Mädchen bezeichnet, fühle ich mich schlecht, denn ich fühle mich einfach als Mensch." Oder "Bitte akzeptiert, dass es viel mehr gibt als nur zwei Geschlechter. Und nicht alle Personen wollen sich da einordnen. Es ist auch nicht so wichtig, was man genau ist, solange wir alle Menschen sind, oder?"usw. -Es ist auf jeden Fall anstrengend, das immer wieder anzusprechen. Da hilft der therapeutische Rückhalt enorm, weil Gespräche geübt und Konfrontationen vorbereitet werden können. Auch deine Freund:innen oder gute Kumpels können helfen. Und nicht zuletzt: Andere Betroffene! Daher ist Vernetzen so wichtig. Das gibt Kraft und Zuversicht, vor allem dann, wenn diese schon positive Erfahrungen mit Outings, ehrlichen Kommentaren etc. gesammelt haben.
- Sobald du merkst, dass dich jemand verhöhnt, abschätzig behandelt oder dich sogar bewusst diskriminiert (und auch Reden nicht hilft!), wäre es höchste Zeit, diese Person konsequent aus deinem Leben zu streichen. Du hast es gerade sowieso schon schwer, da kannst du solche Energieräuber:innen nicht gebrauchen.
- Baue dir über die Jahre eine Art "zweite Familie" auf - die aus Menschen besteht, die absolut zu dir stehen, dich tragen und auf die du in deinen schwersten Zeiten zählen kannst. Und ja, es klingt hart - doch so eine Zweitfamilie aus engsten Freund:innen kann die Ursprungsfamilie durchaus ersetzen, wenn diese nur Enttäuschungen bereithält. Das ist natürlich schon extrem, doch möchte ich diese Möglichkeit nicht unerwähnt lassen. Bis es so weit kommt, muss es meiner Meinung nach allerdings schon viel im Argen liegen. Und ich würde bei den biologischen Verwandten immer zuerst auf gute Kommunikation und Kompromisse setzen anstatt auf völligen Rückzug.
3. Therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen - am besten jemanden, der/die auf queere Jugendliche und Erwachsene spezialisiert ist oder dem Thema zumindest aufgeschlossen gegenübersteht. Das müsstest du dann gleich zu Beginn beim Kennenlerngespräch ansprechen, um zu klären, ob du dort richtig bist. Ich muss an dieser Stelle wirklich betonen, wie wesentlich dieser Punkt ist. Es gibt viele gute Therapeut:innen, aber sie sind eben auch nur Menschen und mögen teilweise ihre Vorbehalte haben oder fühlen sich schlicht überfordert, weil der Bereich z.B. absolut neu für sie ist. Ich rate dir dringend zu einer Therapie, weil du ja noch weitere "Baustellen" zu haben scheinst. Daher zögere das bitte nicht heraus! Auch hier gilt: Solltest du dich allein nicht überwinden können, such dir vertrauenswürdige Personen, die dir helfen, einen Termin zu bekommen und dich eventuell auch beim ersten Mal begleiten würden.

Zum Schluss habe ich noch eine Buchempfehlung für dich: "Queer - eine illustrierte Geschichte" von Meg-John Barker und Julia Scheele. Das ist ein Buch im Comic-Stil. Das erklärt nicht nur die ganzen Begriffe und Theorien, sondern macht einfach ein gutes Gefühl und bestärkt im Anderssein einfach durch das Beschäftigen damit. Es kann dir Sicherheit und Zuversicht geben, dich mit dem Thema an sich zu befassen.

Außerdem habe ich ein paar Videos für dich herausgesucht:
https://www.youtube.com/watch?v=DSbvnHosCUo
https://www.youtube.com/watch?v=E-9awsTRhEA
Es gibt noch viel mehr, gerade über Jugendzentren, die entsprechende Angebote für Jugendliche haben.

Nun wünsche ich dir viel Kraft für deinen weiteren Weg - und den festen Glauben an dich. Du bist es wert, also gib dich nicht auf! Du schaffst das!

Alles Liebe & mit queeren Grüßen!
Nuala