Problem von Anonym - 23 Jahre

Mediensucht des Freundes / Alltagsprobleme

Hallo liebes Team,
ich bin zur Zeit sehr unglücklich. Seit fast sechs Jahren bin ich mit meinem Freund zusammen. Seit ungefähr einem halben Jahr haben wir eine gemeinsame Wohnung. Davor waren wir sehr glücklich zusammen, doch jetzt merke ich, dass ich ihn völlig falsch eingeschätzt habe, was mir sehr zu schaffen macht.

Ich denke das größte Problem ist seine Mediensucht. Ich weiß nicht wirklich, ob man von einer Sucht sprechen kann, aber mir fällt auf, dass er ohne sein Handy, sein Laptop oder die Spielekonsole nicht leben kann. IMMER hängt er davor. Sogar wenn er auf die Toilette geht, nimmt er sein Laptop mit und ich muss in dem Zimmer bleiben, in dem ich mich in dem Moment aufhalte, weil er die Klotüre offen lassen muss, um seinen Laptop an den Strom anzuschließen. Ich halte mich natürlich nicht daran, weil ich es wirklich lächerlich finde und dann werde ich angemotzt.
Ein sehr großes Streittehma ist auch das Handy abends im Bett. Für mich ist das Bett ein besonderer Ort, vor dem einschlafen kann man sich so gut noch Arm in Arm unterhalten - früher, als ich am Wochenende bei ihm übernachtet habe, haben wir das auch immer gemacht und ich fand das wunderschön. Aber er braucht das Handy zum einschlafen. Er lässt es laufen und hört irgendwelche Videos auf Youtube und das Handy läuft dann die ganze Nacht durch, bis der Akku leer ist.
Erstens kann ich nicht einschlafen, wenn ständig dieses blaue Bildschirmlicht flackert und zweitens habe ich grundsätzlich noch nie ein Handy im Schlafzimmer über Nacht liegen lassen, da ich wegen der möglichen Strahlung nicht gut schlafe. Schon gar nicht, wenn das Handy direkt neben dem Kopf liegt. Er möchte das nicht einsehen und nicht verstehen. Inzwischen regeln wir es so, dass er im Wohnzimmer seine Videos schaut und dann rüber kommt, wenn er müde ist. Bis dahin bin ich meistens schon eingeschlafen. Oder er schläft auf dem Sofa ein. Unsere Kommunikation ist gleich Null dadurch. Er ist auch nicht in der Lage, mal einen Film mit mir zu schauen, ohne ein Handy oder ein Laptop in greifbarer Nähe zu haben. Nebenher muss er immer am Handy oder Laptop sein. Wenn ich ihm was erzähle oder ihn was frage, muss ich sekundenlang auf eine Reaktion warten und sogar öfter nachfragen, bis er mal reagiert und antwortet. Das nervt mich und ich habe ihm das schon öfter gesagt. Wir hatten auch mal ausgemacht, einmal lin der Woche für 2-3 Stunden das WLAN auszumachen und uns nur mit uns zu beschäftigen. Das hat er nicht lange durchgehalten.


Der zweite Punkt ist, dass er so gut wie nichts mit mir unternehmen oder sich mit mir beschäftigen möchte. Immer findet er Ausreden. Er möchte einfach nur rumsitzen und im Internet surfen. Mir ist das wirklich zu langweilig und ich fühle mich einsam und alleine gelassen, obwohl wir zusammen wohnen.

Den Haushalt muss ich auch alleine machen. Nur beim Abwasch hilft er mir. Als er noch bei seinen Eltern gewohnt hat, war er immer so ordentlich und hat selbst rausgewischt etc. Heute macht er nichts mehr davon, selbst wenn ich ihn darum bitte, ist er zu faul. Er fühlt sich in unserer Wohnung nicht wohl, am liebsten möchte er, dass wir gemeinsam in sein altes Kinderzimmer bei seinen Eltern im Haus einziehen. Das mache ich aber auf keinen Fall, weil seine Eltern 30 km von unserer Arbeitsstelle entfernt wohnen, und dieser Raum viel zu klein wäre für alle unsere Möbel und uns. Außerdem müssten wir dann einiges umbauen (eine Küchenzeile einbauen etc) und darauf kann ich verzichten.
Ich habe ihm schon vorgeschlagen, in eine andere, vielleicht moderne Wohnung zu ziehen, in der Nähe seiner Eltern von mir aus auch. So weit würde ich ihm entgegenkommen. Aber das will er nicht, er will unbedingt zu seinen Eltern ins Haus. Ich habe ihm schon gesagt, dass er gern zurückziehen kann, ich dann aber nicht mitkomme und wir die Beziehung dann abhaken können. Zum Glück hat er dann einen Rückzieher gemacht und ist bei mir geblieben.

Oft enttäuscht er mich auch und hält seine Versprechen nicht ein. Zum Geburtstag habe ich ihm teure Konzertkarten geschenkt. Er hat mir dann eine Woche Urlaub in Hamburg mit Musicalbesuch geschenkt, er würde alles organisieren. Ich hatte mich wirklich sehr gefreut und mir schon ausgesucht, in welches Musical wir gehen werden. (Zumal wir noch nie zu Zweit im Urlaub waren, weil er nie Lust dazu hatte, was mich auch sehr frustriert). Wir sollten es in den letzten Herbstferien machen.

Nun, die Herbstferien kamen immer näher und nichts ist passiert. Ich habe am Anfang gedacht, dass er alles heimlich plant und deshalb nicht mit mir darüber spricht. Aber irgendwann ist mir klar geworden, dass er sich schlicht und einfach nicht gekümmert hat. Kurz vor den Ferien sprach ich ihn dann darauf an und er meinte, dass wir ja in der Nähe von uns hier in ein Musical gehen könnten, irgendwann im Frühling dann. Und jetzt wäre es sowieso schon zu spät noch irgendetwas in Hamburg zu buchen.
Für mich war das sehr, sehr verletztend und wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte mich so auf Hamburg gefreut, habe allen erzählt, dass wir bald eine Reise dorthin machen werden. Er bereut es jetzt zwar im Nachhinein, mir sowas großes versprochen zu haben und es nicht durchgezogen zu haben, aber seitdem kann ich keinen Wert mehr auf seine Versprechen legen. Im Hinterkopf habe ich immer die Angst, er macht noch einen Rückzieher und lässt mich dann hängen.

Ich überlege oft, mich zu trennen, weil ich unglücklich bin und auch mein Umfeld das merkt. Aber im Grunde liebe ich ihn, und ich möchte die fast 6 Jahre nicht in den Sand setzen. Das ist einfach eine sehr lange Zeit, in der wir Höhen und Tiefen hatten.
Sicherlich bin ich auch nicht perfekt und oft anstrengend, aber ich bemühe mich wirklich um unsere Beziehung, Langsam geht mir nur einfach die Kraft aus.

Es tut mir leid, dass ich so viel geschrieben habe, aber es tat gut, das alles mal von der Seele zu schreiben.

Danke für eure Antwort und eure Zeit!

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich danke dir, dass du dich uns geöffnet hast. Ich hoffe, dass es mir gelingt, dir zu helfen, eine für dich zufrieden stellende Lösung zu finden.

Eines muss ganz klar gesagt werden: Jede einzelne deiner Beschwerden ist absolut gerechtfertigt und du erwägst die Trennung sicherlich nicht zu Unrecht. Wenn eure Beziehung sich halten soll, dann muss die Veränderung von ihm ausgehen. Vielleicht besteht ja die Möglichkeit, dass dein Freund seine jetzige Lebenseinstellung überdenkt und sich fragt, ob ihm nicht doch mehr an dir liegt als an einem Leben zwischen Couch und Laptop. Aber darauf - und das muss ich dir ganz klar sagen - hast du nur begrenzt Einfluss. Eigentlich sogar überhaupt keinen. Das Einzige, was du tun kannst, ist, ihm deutlich zu kommunizieren, dass DU nicht jeden beliebigen Preis zahlen wirst - ER muss sich dann überlegen, wie hoch SEIN Preis ist.

Da ihr trotz eures jungen Alters schon seit sechs Jahren zusammen seid, erlebt ihr die Phase der Ernüchterung früh und besonders heftig. Doch du solltest auf keinen Fall das, was bei euch passiert, auf die "Gewöhnung" schieben oder es gar als normal hinnehmen, auch wenn manche dir vielleicht dazu raten würden. Frei nach dem Motto "In Beziehungen ist halt irgendwann die Luft raus und die Romantik geht flöten, so ist das Leben". Damit solltest du dich nicht abspeisen lassen. Tatsachen sind folgende: Dein Freund engagiert sich nicht für eure Beziehung; er engagiert sich nicht im Haushalt; er hat kein erkennbares Interesse, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen; und außerdem - und das finde ich persönlich sogar das Schlimmste - er nimmt keine Rücksicht auf deine Gesundheit. All das hast du geschildert, und er muss sich fragen lassen, ob er dich wirklich noch liebt. Das ist gerade auch deshalb von Bedeutung, weil er nicht über seine Gefühle spricht: Es wäre durchaus legitim gewesen, wenn er dir erklärt hätte, dass es ihm nicht gelingt, ein Event wie das in Hamburg zu buchen, oder dass seine offensichtliche Mediensucht ihm dabei im Wege steht. Dann hättest du es wohl noch immer nicht toll gefunden, doch könntet ihr gemeinsam daran arbeiten. Nachdem er aber nicht nur ein Problem hat, sondern auch nicht darüber redet und dich darunter leiden lässt, kann es in der Zukunft zu einer Situation kommen, in der die Trennung die einzige verbleibende Möglichkeit ist. In deinem und auch in seinem Interesse. Daher gilt es, schnell zu handeln.

Das erste Problem, das du angehen solltest, ist in meinen Augen das des Medienkonsums. Denn da er euren Schlaf und eure Gesundheit gefährdet, gefährdet er auch eure Kommunikationsbasis für die Lösung der übrigen Probleme. Du solltest deinem Freund daher sehr klar vermitteln: Es ist ebenso deine Wohnung wie seine, und wenn das Schlafzimmer für dich zum Schlafen da ist, dann darf und soll das so sein. Medien können den ganzen Tag über genutzt werden - aber irgendwann ist einmal Schluss. Vielleicht gewinnst du auf diese Weise auch etwas Freiraum, um die übrigen Fragen mit ihm anzusprechen - wenn das Handy oder der Laptop mal außer Reichweite sind. Dass das nur die erste, die kleinste, die absolut nötigste Absprache ist, und dass er mittelfristig seine Mediennutzung überhaupt drastisch reduzieren muss, ist klar. Aber beginnen wir klein - und sage du ihm auch, dass das der Minimalkonsens ist, aber noch lange nicht das Ende. Wenn er allerdings gereizt reagiert und schon bei diesem Thema eine Grundsatzdiskussion zwischen euch entsteht, musst du dich fragen: Wie willst du die Probleme kitten, wenn du gar nicht mehr die Chance hast, ein Gespräch unter vier Augen (ohne Bildschirme) zwischen dir und ihm einzuleiten? Dein Freund scheint zu dem großen Heer der Menschen zu gehören, für die es inzwischen ganz selbstverständlich geworden ist, die Realität in erster Linie mit und durch ein internetfähiges Gerät wahrzunehmen: Überall muss sofort fotografiert und gefilmt, alles muss festgehalten werden. Und wenn ein Anruf oder eine Nachricht kommt, dann muss sie sofort beantwortet werden. Dass unter der ständigen Mediennutzung das eigentliche Leben verschwindet, und dass es mehr wert ist, einen Augenblick tatsächlich zu genießen, statt ihn sogleich zu dokumentieren, ist für viele Leute schon gar nicht mehr nachvollziehbar. Sollte das auf ihn zutreffen, solltest du ihm eindeutig sagen, vor welcher Wahl er steht: Du möchtest dich seinem Lebensstil nicht anschließen - du möchtest dein altes Leben zurück. Wenn ER sein neues lieber mag, dann wäre es vielleicht an ihm, zu gehen, statt alles auf deinem Rücken auszutragen.

Und wenn er sich seiner Sucht - denn davon kann man sprechen - bewusst ist, dann ist es genauso seine Verantwortung, sich Hilfe zu suchen oder sie vorerst wenigstens von dir anzunehmen. Du kannst eine Therapie nicht ersetzen, und du kannst, wo sie fehlt, auch nicht die Folgen tragen. Eine Sucht ist etwas Dramatisches, genauso wie Depressionen etwas Dramatisches sind. Aber sie zu haben, rechtfertigt auch nicht alles. Das eigene Umfeld kann nur begrenzt darauf Rücksicht nehmen, wie es einem selbst gerade geht; wenn das, was du für ihn an Kraft und Verständnis, an Leidensfähigkeit aufbringen kannst, erschöpft ist, dann ist der Zeitpunkt, wo diese Rolle vielleicht an eine ambulante oder (im äußersten Fall) eine stationäre Therapie übergehen sollte. Nicht anzunehmen, dass ihm dieser Gedanke gefällt. Deswegen ist er aber nicht zu verwerfen. Denn fest steht: Dies ist nicht mehr nur SEIN Leben, sondern es ist EUER Leben. Er hat genauso eine Verantwortung für DICH, wie du eine für ihn hast. Du hast diese Verantwortung bisher erfüllt, er tut es ganz bewusst nicht. Daher wäre es nicht nur empfehlenswert, sondern geradezu eine Pflicht, wenn ihm wirklich an dir liegt, sich professionelle Hilfe zu suchen. Wenn er sie braucht. Und wenn er nicht mehr in der Lage ist, seinen Medienkonsum eigenständig zu drosseln oder örtlich zu begrenzen, dann braucht er sie mit Sicherheit. Verweigert er sie, wirst du ihm nicht mehr helfen können. Krankheit, auch seelische, verdient immer Mitgefühl - aber, und das sage ich dir als früherer Betroffener: sie kann auch schnell in Egoismus umschlagen. Möglichkeiten zur Besserung nicht zu nutzen, obwohl sie da sind und obwohl man von jemandem gebraucht wird, ist verantwortungslos. Er kann SEIN eigenes Leben leben - dann aber für sich. Oder er kann EUER Leben leben - dann auch FÜR dich. Und dafür muss er auch Dinge tun, die er sonst vermieden hätte. Das ist nun einmal so. Und in seinem Interesse sowieso.

Sein Wunsch, dass ihr beide gemeinsam zu seinen Eltern ziehen sollt, ist völlig absurd. Oder sagen wir: Für euch als Paar. Wenn ER für sich allein so handeln möchte, dann kann er das ja tun. Nur wird er dann seine Beziehung zu dir nicht halten können - und muss sich deshalb auch fragen, ob das überhaupt sein Wunsch ist. Auf mich wirkt das Verhalten deines Freundes so, als fühlte er sich überhaupt noch nicht bereit, mit dir ein gemeinsames Leben aufzubauen und selbstständig zu werden, womöglich eine Familie zu gründen. Eher scheint er sein altes, bequemes Leben im "Hotel Mama" zu vermissen und wünscht sich mehr Zeit, um sich langsam dahin vorarbeiten zu können, wo ihr jetzt schon seid. Das überfordert ihn, und weil das so ist, flüchtet er sich in den Medienkonsum, meidet die Kommunikation mit dir und zeigt sich unfähig, Dinge zu planen und zu organisieren. Am liebsten wäre er diese Verpflichtungen los. Deshalb zögert er die notwendigen Schritte hinaus, bis es zu spät ist, mag sich aber mit deinen Vorwürfen auch nicht so richtig auseinandersetzen. Obwohl er weiß, wie sehr er sie verdient.

Entweder ist er also insgeheim verängstigt, weiß noch nicht so recht, ob er lieber der Mann an der Seite einer Frau oder Mamas kleiner Junge sein will. Oder aber: Er zeigt dir tatsächlich eine Seite von sich, die du noch nicht kanntest, hat sich schon so an eure Beziehung gewöhnt, dass er sein verletzendes Verhalten gar nicht mehr wahrnimmt. In diesem Falle musst du ihm eine Rosskur verpassen - indem du einfach mal all das, was du für ihn tust, sei es putzen, waschen oder einkaufen, einstellst. Wie es bei euch im Bett aussieht, darüber hast du nichts geschrieben - aber auch hier liegt logischerweise ein Druckmittel, das du einsetzen kannst. Denn nichts verpflichtet dich, mit einem Mann intim zu sein, von dem du enttäuscht bist und bei dem du dich nicht entspannen kannst. Dafür sind dein Körper und deine Lust zu schade. Im günstigsten Fall wird ihm dann von selbst klar werden, was er entbehrt, wenn er dich verprellt. Vielleicht wird er auch vorwurfsvoll reagieren. Dann hast du immerhin eine Gelegenheit geschaffen, ihm vorzuhalten, was er sich erlaubt. Das wird natürlich nicht ohne "zerbrochenes Geschirr" (im übertragenen Sinne) ablaufen. Doch du solltest nicht zögern, einen Streit, laute Worte und ein paar Nächte allein zu riskieren, wenn es um nichts weniger als deine Beziehung geht. Immerhin wirst du dir dann, falls es scheitert, nicht vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben.

Wenn dein Freund mehr und mehr zeigt, dass ihn euer Leben zu zweit überfordert und nicht wirklich reizt, dann wird sich das verstärken, was jetzt bereits eingesetzt hat: Du rutschst immer mehr in die Rolle der Mutter. Das kann sich dann so auswirken, dass dein Freund noch eines, zwei oder fünf Jahre braucht, bis er in der Lage ist, das Leben zu leben, das du eigentlich schon jetzt mit ihm beginnen wolltest. Oder - und dieser Fall ist leider der wahrscheinlichere -, er wird, befreit von dem Zwang, sich zu entwickeln, in seiner Entwicklung eher rückwärts laufen. Schließlich hat er das bisher ja auch getan: Nicht umsonst hat er Gewohnheiten abgelegt, die er zuhause noch hatte. Ihm fehlt es an Druck, an Struktur, die er sich selbst nicht schaffen kann. Aber du musst dich ehrlich fragen: Siehst du dich in der Lage, ihm das zu geben? Willst du das überhaupt? Es ist völlig legitim, wenn du diesen Mann wirklich liebst, mit ihm einen Plan zu machen, wie er sein Leben wieder in den Griff kriegt, und ihn anleitest. Dafür muss er das jedoch selbst wollen, vor allem erst einmal das Problem erkennen. Genauso legitim aber ist es, wenn du sagst, das ist nicht mein Bier - ich kann und will nicht mit jemandem zusammen sein, der nicht nur noch zu reifen hat, sondern darüber auch nicht ehrlich ist. Denn alles kann verziehen werden, wenn es offen kommuniziert wird. Dein Freund aber lässt es nicht nur an Unterstützung, sondern auch an Wertschätzung fehlen, Wertschätzung dafür, dass du seine fehlende Selbstständigkeit und seine Leichtlebigkeit abfängst. Und dass dir das extrem weh tut, ist mehr als verständlich.

Letztendlich könnte ich hier lange reden: Ich denke, ich muss dir nicht weiter erklären, dass es hier eines oder hundert klärende Gespräche zwischen dir und deinem Freund braucht. Wenn es nicht möglich ist, sie zu bekommen, weil er schon zu weit in seine eigene Tonart abgedriftet ist, musst du dich fragen, wie weit du gehen willst: Willst du dich von ihm trennen - aber wenn du das tust, hast du dann insgeheim die Hoffnung, dass er dadurch ein Einsehen hat, und würdest es noch einmal mit ihm versuchen, wenn er dich darum bittet und verspricht, sich zu ändern? So wie ich dich verstehe, hängst du - nachvollziehbarerweise! - sehr an eurer gemeinsamen Zeit und hoffst, er würde wieder mehr wie der Mensch werden, den du so sehr geliebt hast, dass du mit ihm zusammen gezogen bist. Ich kann dir hier keinen eindeutigen Rat geben und will es ehrlich gesagt auch gar nicht. Was ich dir aber empfehlen kann, ist, dein Handeln so zu wählen, dass du zu einer einmal getroffenen Entscheidung stehen kannst.

Daher habe ich dir eben diese Frage gestellt: Denn solange du dir von Drohungen, die du aussprichst, oder auch davon, dass du sie wahr machst, nur versprichst, ihn zu läutern, zeigt dir das nur, wie sehr du ihn in Wirklichkeit noch liebst. Und wenn du das tust, dann lohnt es sich durchaus auch, um diese Beziehung zu kämpfen. Vielleicht musst du ihn noch eine Weile ertragen, bis du so sehr frustriert bist, dass du ihn - überzeugt! - verlassen kannst. Vielleicht musst du auch mit ihm streiten, eifrig und viel, bis du ihm deinen Standpunkt klar gemacht hast. Um ihn dann doch zu verlieren. Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass man sich besser fühlt, wenn man sich nach Kräften bemüht hat - auch wenn es ist, um dann doch zu scheitern. Dann kannst du offenen Herzens abschließen. Gib dieser Beziehung also gerne noch eine Chance. Diese Chance muss aber eine sein, die anders aussieht als die bisherige, in der du alles mehr oder weniger hingenommen hast. Diese Chance muss eine Prüfung für ihn sein: Kommuniziere, was du willst, und erwarte, dass er es dir bietet - und wenn er es nicht kann, soll er es dir wenigstens sagen. Möglicherweise ist das meine wichtigste Botschaft: Verlange von ihm, dir offen zu sagen, wenn ihn etwas überfordert oder ihm Angst macht! Und wenn er das nicht will, nicht kann oder gar nicht erst begreift - dann stellt sich eher die Frage, ob eure sechsjährige Beziehung euch wirklich zu dem gemacht hat, was du dir für euch wünschst, zu sein. Das ist dann sehr traurig - aber was bisher nicht an Vertrauen geschaffen wurde, wird auch nicht mehr wachsen. Trenne dich von ihm also dann, wenn du merkst, dass du nichts mehr erreichen kannst. Wenn du allerdings noch Hoffnung hast, bleib solange am Ball, bis sie aufgebraucht ist. Denn dann wirst du dich in Zukunft nicht fragen, ob du nicht noch dieses oder jenes... nein. Was einmal vorbei ist, kann nicht wieder zum Leben erweckt werden. Ihr könnt euch als Paar neu erfinden, aber das geht nur, wenn du von ihm etwas verlangst. Dann könnt ihr wieder von vorne anfangen. Du hast klare und absolut gerechtfertigte Wünsche - aber wenn sie sich nicht erfüllen, dann musst du von vorne anfangen. Und das wird dann wahrscheinlich auch für euch beide das Beste sein.

Ich wünsche dir ganz viel Kraft, Beharrlichkeit und die Fähigkeit, dir auch ungerechte Vorwürfe nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen! Vor allem aber wünsche ich dir die Fähigkeit und Bereitschaft, die Konsequenzen zu ziehen, wenn sie nicht aufhören. Du hast alles versucht - oder bist noch dabei; aber irgendwann hat alles ein Ende. Und ich wünsche dir, dass du dieses Ende setzen kannst, sollte es notwendig werden. Du bist gerade mal 23 - das ganze Leben liegt im Grunde noch vor dir. Nur du kannst wissen, was du darin leisten kannst und was du brauchst. Du musst deinem Freund nicht bieten, was ihm sein Elternhaus geboten hat. Es steht ihm frei, zurückzugehen. Du aber, du hast alle Freiheit. Und ich hoffe, du kannst sie so nutzen, dass es dir gut tut.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul