Problem von Anonym - 18 Jahre

Ich komme nicht mehr weiter (3)

Hallo mal wieder!

Hier der Link zum letzten Beitrag:

http://mein-kummerkasten.de/40984/Ich-komme-nicht-mehr-weiter-2.html

Nochmals danke für deine ausführliche Antwort, Michaela! Kein Problem, dass es länger gedauert hat. Ich bin ja auch nicht wirklich in der Postion irgendwelche Ansprüche zu haben, bin einfach nur froh, dass es euch gibt :-)

Also (mal wieder...):

Ich habe nun einen Termin bei einer "Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie". Die Praxis liegt in der Nähe meiner Schule und ich habe von meiner Lehrerin die Erlaubnis während des Unterrichts dahin zu gehen, was ich ihr sehr hoch anrechne! Sollte es länger dauern redet sie sogar mit den Lehrern, die ich danach im Unterricht habe. Sie ist echt eine klasse Frau!

Also erst zum Hausarzt, durchchecken lassen (inwiefern?), Überweisung geben lassen, und dann damit zu der Ärztin? Muss ich nicht auch schon bei meinem Hausarzt die 10? bezahlen?

Meine Freundin bekommt schon Hilfe. Sie wohnt im Heim und bekommt Medikamente, befindet sich in Therapie. Es tut so weh zu sehen, wie schlecht es ihr trotz der Medikamte geht. Diese riesigen Narben auf ihren Armen, beim Training kann ich oftmals neue Schnitte sehen.
Letztens hat sie neue Medikamte bekommen, trotzdem geht es ihr nicht gut.
Habe soviel mit ihr erlebt, und dann kommt da irgendein Idiot und ruiniert ihr Leben.

Ich weiß, dass Schule nachher nichtmehr wichtig ist. Mein Studienfach hat keinen NC, ich könnte also rein theoretisch relaxt ans Abi gehen (ja, dieses Jahr!). Trotzdem höre ich immer wieder: "Und wenn du dein Studium nicht schaffst, stehst du auf der Straße!" oder "Da steht dann zwar 12 Jahre auf dem Zeugnis, nur fragt sich später jeder, was aus dir geworden ist!" (Ich habe ja übersprungen). Eltern können so grausam sein. Sätze wie "Du machst soviel kaputt, das weißt du nur gar nicht!" höre ich jeden zweiten Tag (zuletzt, als ich gerade mit der Beratungslehrerin telefonierte, aber sie hat es wahrscheinlich nicht gehört, meine Mum schrie durch die Tür!). Was kann ich denn kaputt machen, wenn ich den lieben langen Tag nur vor meinem PC sitze, die Tür abschließe, Vorhänge vor?

Ich habe mal wieder nichts besseres zu tun, als musikhörend die Favoritenliste durchzugehen und mir Vorwürfe zu machen. Ich habe gestern das erste mal in der Küche gestanden und ernsthaft daran gedacht, die Schlaftabletten meiner Mutter zu nehmen. Aber nein, ich kann das einigen Personen nicht antun. Unteranderem meiner Mutter nicht, weil es ihr ja wie gesagt schlecht geht. Paradox, oder? Ich will weg von hier und denoch niemanden verletzen. Ich sollte ausziehn, nur leider fehlt mir das Geld dazu.

Zweiter und dritter Bildungsweg, ich weiß. Meine Mum hat so ihr Abi neben dem Job und uns Kindern gemacht (habe einen Bruder). Und ich schaffe nichtmal die "normale" Schule vernünftig. Das hält sie mir auch ständig vor. Die haben wirklich keine Ahnung, was da im Hintergrund bei mir abläuft. Weder, dass ich einen Termin bei dieser Praxis habe, noch das irgendwas anderes nicht in Ordnung ist.

Ich habe mich mal schlau gemacht, dass ein Ausbleiben der Regel bei Frauen, die erst kürzlich angefangen haben zu menstruieren (ich hoffe das Wort gibt es, ansonsten habe ich nun Neologismus Nummer 34 in meinem "Neologismen und Sprüche Buch"), keine Seltenheit ist. Aber was ist "kürzlich"? Ich habe meine Periode erst mit 16 bekommen. Sie war nie regelmäßig, oft viel zu stark. Aber das sie nun ganz weg ist, ist mir neu. Außerdem stand da, dass man sich erst, wenn die Periode schon 3 Monate oder länger nicht da war, einen Termin beim Gynäkologen machen soll. Demnach hätte ich noch einen Monat. Ist es dann sinnvoll, jetzt schon hinzugehen?

Ritzen: Für mich gehört sowohl der Schmerz als auch das Blut dazu. Wenns nicht blutet ritze ich nach. Allerdings habe ich (bis auf einmal) noch nie so tief geritzt, dass das Blut aus der Wunde austrat. Man sieht es, und das reicht mir, es muss nicht fließen. Daher habe ich auch nicht diese Narben, die für immer bleiben (hoffe ich). Man sieht rote Linien unter der Haut, aber sie werden blasser. Was könnte ich denn anderes tun?
Es erlöst mich für den Rest des Abends von diesem seltsamen Gefühl, dass ich am liebsten schreien und weinen gleichzeitig machen würde. Aber es geht nicht!

Nochmals danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Michaela!

Ganz liebe Grüße an dich und das gesamte Team!

Anwort von Michaela

Hallo,


Mensch, Klasse, dass deine Lehrerin dich jetzt doch so sehr unterstützt. Ich hoffe, dass sie dir nicht nur den Rücken freihält, sondern auch zu dir steht, wenn es etwas heftiger kommt, aber das wird sich zeigen.

Hausarzt: Ja, vor jeder weiterführenden Behandlung ist es sinnvoll, sich komplett durchchecken zu lassen. Der Grund: Auch eine körperliche Beeinträchtigung kann seelische Folgen haben (Psychosomatik), wenn sie nicht erkannt werden. Die Folge ist, dass zwar die Seele behandelt wird, aber nicht der Auslöser. Ein beliebtes Beispiel sind Magengeschwüre. Man kann zwar Medikamente gegen den Virus geben, der sich einnistet, aber es gibt in ca. 80-90 % der Fälle auch eine seelische Ursache, weshalb dieser Virus nicht abgewehrt werden konnte. (Schwächung des Immunsystems etc.). Anders herum gesehen ist es ebenso sinnvoll, eine Psychotherapie von einem "Körperarzt" beobachten zu lassen, um eingreifen zu können, wenn der Körper streiken sollte (z. B. Migräne, übermäßige Müdigkeit...). Also immer schön alles im Blick behalten, um das Problem wirklich von allen Seiten anzugehen!
Auch was die Verwaltung angeht ist es sinnvoll, dass du zuerst den Hausarzt aufsuchst: Wenn er dich nämlich überweist, bekommt er vom weiterbehandelnden Arzt einen Bericht, was für spätere Behandlungen wichtig sein kann. Deine Unterlagen sind also nicht überall verstreut, sondern dein Hausarzt kann dir auch bei anderen Krankheiten gezielter helfen und muss nicht erst herumdoktern (und du redest dir nicht jedesmal den Mund fusselig!) Aber um die 10 ? kommst du nicht herum, so oder so nicht. Es lohnt sich auf jeden Fall :-)

Deine Freundin wohnt bereits in einem Heim? Gut, dann bekommt sie die Hilfe, die sie braucht. Wir Außenstehenden sind übrigens gar nicht so hilflos, wie wir manchmal meinen. Klar, die Vergangenheit können wir nicht rückgängig machen, und die Narben auf ihren Armen gehen davon auch nicht weg. Das Entscheidende ist, dass jemand da ist. Du kümmerst dich um deine Freundin, du gibst ihr ein Stück Kraft; jemand erzählte einmal, dass er sich vorkäme wie ein kleines Pinguinküken in der Antarktis, mitten im Schneesturm, und das Einzige, was hilft ist, dass er sich im übertragenen Sinne auf die Füße seines Freundes setzen könnte, wie es die Küken tun, und sich ins Federkleid kuscheln, was zwar den Sturm nicht stoppt, aber lebenswichtige Wärme spendet. Auf jeden Fall solltest du deiner Freundin sagen, dass es dich auch belastet, wenn es ihr so schlecht geht. Sie wird vielleicht abwehrend reagieren und nicht wissen, wie sie sich verhalten soll, aber ich denke, ihr findet eine Lösung dafür, und wenn ihr euch nur spontan ablenkt (Kaffee, Kino, alles ist erlaubt).

Eltern & Schule: Mal ehrlich, glaubst du wirklich, dass die Sprüche deiner Eltern Hand und Fuß haben? (Ich weiß, ich sollte mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, in 16 Jahren wird mir meine Tochter auch auf die Zehen treten!) Es gibt so viele Leute, die ihr Studium schaffen und trotzdem auf der Straße stehen. Und es gibt genug Studenten, die eher mittelmäßig abschneiden und dann eine Bilderbuchkarriere hinlegen. Und dieser Satz: "Da fragt sich jeder, was aus dir geworden ist!" fällt eher unter "Fehltritt, bitte vergessen"... Und was ist mit all den Dauerstudenten und Studienabbrechern, davon gibt es auch mehr als genug! Und die sind - man soll´s kaum glauben - auf dem Arbeitsmarkt trotz allem beliebt, weil sie wissen, wie man sich selbst in etwas einliest. Studienabbrecher werden immer noch eher genommen bei der Lehrstellenvergabe als normale Schulabgänger, weil sie als "reifer" gelten.
Das, was du über deine Eltern schreibst, liest sich, als ob sie zur Zeit selbst überfordert wären, mit dem Beruf, der Familie, mit ihrer Partnerschaft, was auch immer. Es ist fies, dass sie sich als Ventil ausgerechnet dich ausgesucht haben, aber anscheinend geht es momentan nicht anders. Augen zu und durch, kann ich von hier aus leider nur sagen; vor Ort könnte man mal ein Familiengespräch einplanen, wenn du zu deiner Psychologin gehst. Bis es so weit ist, ja, was kann man da machen? Ohren auf Durchzug?
Hast du deine Eltern mal gefragt, was du genau alles kaputt machst, wie sie es dir immer vorwerfen? In vielen Fällen können solche Behauptungen gar nicht bewiesen werden, vielmehr wird abgelenkt und zu Vorwürfen gegriffen. Ich weiß nciht, ob du momentan in der Verfassung bist, so ein Gespräch durchzustehen; vielleicht bringt es dich weiter? Wenn nicht, lass es einfach auf dich zukommen, während der Therapie habt ihr alle mehr Zeit als genug zu reden.

Paradoxe Gefühle sind momentan normal. Du willst niemanden verletzen und trotzdem weg; ganz besonders was deine Mutter angeht. Sicher merkt sie, dass du langsam flügge wirst und möchte dich zurück halten, was natürlich nicht geht. Denn erstens ist sie erwachsen und sollte ihr Leben selbst leben können, und zweitens bist du nicht dazu verdonnert, ein Leben lang für sie zu sorgen. Du bist ein eigenständiger Mensch, du musst dein Leben in die Hand nehmen. Es ist übrigens doch möglich, dass du ausziehst: Von Gesetzeswegen her sind deine Eltern verpflichtet, dich bis zum Abschluss der ersten Ausbildung oder spätestens bis zum 27. Lebensjahr finanziell zu unterstützen, und dazu gehört auch eine eigene Wohnung, wenn es sein muss. Ich bin damals auch mit 18 ausgezogen, weil wir uns nur noch angenervt haben, und letztendlich hat sich das Verhältnis zu meinen Eltern gebessert. Wenn deine Eltern das nicht wollen (was trotz allem ihr gutes Recht ist), frag deine Psychologin, wie es aussieht mit betreutem Wohnen. Für Jugendliche in außergewöhnlichen Situationen (zu denen du auch gehören könntest) gibt es in größeren Städten WGs, die von Soz-Pädagogen und Psychologen betreut werden. Der Sinn dieser Einrichtungen ist der, dass die Jugendlichen in aller Ruhe "erwachsen" werden können und ihr seelisches Gleichgewicht wiederfinden. Diese WGs sind in der Regel offen, so dass man sein Leben normal weiterführen kann.

Moment, deine Mutter hat auch den zweiten Bildungsweg genommen? Wieso darfst du das dann im Notfall nicht?! Das ist ja ulkig. Ist ein Abitur deshalb schlechter, als wenn man es auf dem "ersten Weg" geschafft hätte?

Das verstehen, was bei dir im Hintergrund abläuft... Jetzt stehe ich vor dem Problem, etwas Komplexes in einfachen Worten ausdrücken zu müssen. Ich versuche es mal:
Eine Familie ist ein System. In diesem System hat jedes Mitglied seine Aufgabe, seine Rolle, etc. Normalerweise funktioniert dieses System reibungslos, was allerdings nicht heißt, dass jeder mit seiner Rolle zufrieden ist. Solang jedoch keiner das System in Frage stellt, bleibt alles beim Alten.
Jetzt tritt der Ernstfall ein: Ein Mitglied des Systems fällt aus, wird krank, will nicht mehr. (Bei einer Maschine könnte eine Schraube brechen oder etwas ähnliches.) Das bedeutet, dass die Aufgaben des ausfallenden Mitgliedes von den anderen übernommen werden müssen, um das alte Gleichgewicht (Homöostase) aufrecht erhalten zu können. Fast immer wird in diesen Augenblicken gewahr, dass das System an sich nicht wirklich stimmig ist. Trotzdem läuft alles noch eine Zeit lang wie bisher, bis jemand meckert und sagt: "Ich will alles wieder so haben wie vorher, mir wird das sonst auch zuviel!"
Übertragen auf seelische Konflikte kann das z. B. heißen, dass jemand, der gar nicht dafür zuständig ist, Aufgaben eines anderen übernommen hat, und alles lief bisher glatt. Vielfach sind es die Kinder, die Probleme der Eltern austragen (müssen), ohne es zu wissen, z. B. hören sie sich Vorwürfe an, die eigentlich an den Ehepartner gehen, werden sogar als Ersatz hergenommen, wenn es um Entscheidungen geht etc. Oder jemand trägt alte Konflikte aus anderen Beziehungen in die neue Familie mit hinein, die die anderen damit kompensieren, indem sie "mitspielen".
Das alles ist frustrierend, und es braucht jemanden, der etwas dagegen tut (Kind sagt: Ich will ausziehen! oder wird krank...). Kaum ist das jedoch der Fall, bedeutet es gleichzeitig für die anderen, dass sie ihre Rolle im System neu überdenken müssen, was auch ein Sich-selbst-in-Frage-stellen bedeutet. Jeder wird gezwungen, sich mit seinen STärken und Schwächen zu reflektieren, und dann wird´s erst richtig interessant. Schuldzuweisungen fliegen hin und her, man sagt sich endlich, was schon lange mal fällig war - ... Solche Prozesse sind langwierig und schmerzhaft, jedoch sehr erlösend für alle. Das bedeutet nicht, dass am Ende ein großer Scherbenhaufen übrig bleibt, und das war´s dann. Viel mehr ist es eine Chance für alle, einen neuen Weg zueinander zu finden, oder auch nicht. Die Entscheidung darüber bleibt den Systemmitgliedern überlassen; alles ist möglich. - Ich hoffe, der Grundgedanke kam rüber? Was ich vor diesem Hintergrund sagen wollte ist: Dein Eltern ahnen, dass dein Zustand auch etwas mit ihnen zu tun hat, und wehren sich dagegen. Es ist blöd, aber eine normale Reaktion. (Und das geht vorbei, früher oder später.)

Ausbleiben der Regel: Es ist immer sinnvoll, etwas untersuchen zu lassen, vor allem, wenn es dich belastet. Geh jetzt, dann hast du es hinter dir.

Ritzen: Es muss also nicht unbedingt Blut fließen, sondern es reicht, dass du es siehst... Und am liebsten würdest du weinen und schreien gleichzeitig... Kannst du mit deiner Freundin irgendwohin gehen, wo ihr euch so richtig austobt? Schreit und weint? Oder du alleine? Ein Keller, im Wald, irgendwo? Wenn du schon etwas weißt, dann probier es aus! Notfalls bist du einen Tag heiser, aber wenn´s hilft!

Ich wünsche dir nach wie vor alles Gute, und schreib uns noch, es ist für uns auch gut zu erfahren, dass es mit dir ein wenig aufwärts geht!

Liebe Grüße,

Michaela