Problem von Anonym - 17 Jahre 15.06.11

Sehbehinderung, strenge türkische Erziehung & der Wunsch nach Selbstbestimmung!

Hallo,

es würde mich sehr freuen, wenn sie sich zeit nehmen und mein problem bzw. meine geschichte lesen würden. ich denke, dass es im vergleich zu anderen problemen sehr lächerlich ist, aber ich komme damit nicht mehr klar!

das wichtigste: vor kurzem bin ich 17 geworden. ich habe von geburt an eine sehbehinderung, d.h. ich kann nichts außer hell und dunkel erkennen. (bitte keine unnöten bemerkungen diesbezüglich). ich besuche die 8. klasse einer realschule für sehgeschädigte menschen. ursprünglich bin ich türkin, doch ich bin in deutschland geboren.

meine eltern sind sehr, sehr religiös. alles drum und dran, mit 5x beten pro tag, fasten usw.
früher, so bis ich 13 war, hab ich mich nicht wirklich darum gekümmert. meine eltern taten es, also musste ich das auch tun. ich habe mir nicht gedanken darüber gemacht. doch von zeit zu zeit,ich wurde älter, und dachte auch mehr nach. mit 14 wusste ich, dass ich anderer meinung bin. ich war fest davon überzeugt, dass religionen pure erfindungen sind. und der Überzeugung bin ich heute auch noch.
Wenn Menschen meinen, sie tun das richtige, in dem sie einen allah bzw. gott anbeten, sich Sachen verbieten lassen uvm, dann sollen sie das tun und damit glücklich werden. ich habe kein Problem damit,und werde keinen versuchen, davon abzuhalten.
aber sollen sie es doch bitte meine entscheidung sein lassen, an wen ich glaube bzw. nicht glaube.
kann man einem menschen erzwingen, an was er glauben bzw. nicht glauben soll?
genau das tun meine eltern mit mir. als ich sie mit 14 das erste mal darauf ansprach, wurde ich von ihnen geschlagen. "du MUSST daran glauben, du hast keine andere wahl", sagten sie immer wieder.
Herrscht in Deutschland nicht Meinungsfreiheit? Warum dann nicht für mich?
die Dinge, die ich für gewöhnlich halte,sind für meine eltern total inakzeptabel.
d.h. wenn ich einen Freund habe, (und sei es nur ein händchenhalten).
wenn ich den kleinsten Schluck alkohol zu mir nehme.
wenn ich mich mit Freunden treffen mag.
wenn ich eine 3/4hose anziehen möchte.
Ich weiss, das sind alles so lächerliche themen, aber ich schaff das nicht mehr!
ich hab meine Familie trotz all dem gern und möchte sie keineswegs verletzen.
aber all die zeit - diese drei jahre haben wir keinen mittelweg gefunden. es gibt keine lösung, mit der wir beide zu frieden wären.
da ist schon das nächste problem:
schon mit 14 versuchte ich es zum ersten mal mit dem jugendamt. ich wollte raus von zu hause, ganz egal wo hin. mehrmals bin ich von zu hause weggelaufen. wurde immer wieder für mehrere monate in die psychatrie gesperrt, aufgrund selbstmordgefahr, ritzen, alkohol, essstörung, ... . ich hab die schnautze voll!
vom jugendamt aus hieß es immer, dass blinde menschen nicht in "normale" wohngruppen aufgenommen werden können, dass sie zusätzliche pflege benötigen, und so ein schwachsinn. ..Und sie wussten von den Schlägen und dem großen Krach bescheid!. (meine eltern haben es abgestritten, das mit dem schlagen. sie taten so,als wären wir eine perfekte familie,als würde ich,auf gut deutsch gesagt,'nen Scheiß erzählen.)
ich brauche keine zusätzliche pflege. womöglich klingt das jetzt eingebildet aber,abgesehen davon,das ich mein umfeld nicht sehe bin ich genau so wie all die anderen.
ich bin in der lage, mein essen zu kochen, meine wäsche zu waschen usw, ich könnte auch alleine leben. aber das wollen sie nicht verstehen...
letztes jahr, im mai 2010, hatte ich einen ernsten selbstmordversuch. der letzte - zum glück.
ich hatte mehrere hunderte tabletten genommen. nach 6 tagen koma bin ich wieder erwacht.
das kann ich nicht verstehen! wie soll ich das deuten? ist das nur ein zufall, hat es das pech auf mich abgesehen oder hat das ganze einen tieferen sinn, den ich heute nicht erkenne?
ich kann nicht sagen, ob ich glücklich darüber bin, noch immer am leben zu sein.
manchmal, da gibt es diese momente. am liebsten würde ich die ganze welt umarmen. das in mir brodelnde Glücksgefühl nach außen bringen und mit jedem teilen. da denke ich nur daran, "ICH WILL LEBEN!!!". und nichts anderes. da schäme ich mich, für all die dinge, für die scheiße die ich baue.
doch diese momente gibt es nicht oft. viel öfter sitze ich allein in meinem zimmer,grüble und frage mich, wann es endlich zu ende mit mir ist.

Es ist kein schönes Gefühl, von den eigenen eltern geschlagen zu werden.dazu kommt noch,dass ich sie nicht sehe. sätze wie "verreck, du bist eine schande für die ganze familie", sind nicht selten geflogen.
zwei jahre war ich nicht in der schule aufgrund fehlzeiten. jetzt bin ich in der 8. klasse, eigentlich wäre ich in der zehnten. ist in ordnung, die sachen lassen sich nicht mehr ändern.
wenn meine ganze jugend versaut ist, hätte ich gerne wenigstens eine schöne zukunft. ist das zuviel verlangt???
seit diesem schuljahr bin ich in einem internat, das zu meiner schule gehört. ich bin glücklich darüber,nach all den jahren es soweit geschafft zu haben, zumindest unter der woche nicht mehr zu hause zu sein.

womöglich bin ich ein sehr hinterfotziger mensch - ich weiß es nicht. es ist nicht meine Absicht, mich selbst zu bemitleiden oder den undschuldsengel zu spielen.
aber wenn man einmal mein äußeres, und danach mein inneres betrachten würde, wäre es vermutlich schwer zu glauben, dass das ein einzelner mensch ist.
es fällt mir grundsätzlich nicht leicht, mein inneres nach außen zu bringen.
und als letztes Jahr im mai das Eine passiert ist, wurde die sache noch viel extremer.
ich habe angst. das meine eltern die wahrheit erfahren. das sie herausfinden,wodurch auch immer,dass ich noch trinke. das ich mich noch immer verletze.
es ist nicht die angst vor den schlägen die mich erwarten,es ist auch nicht die angst vor meinem seelischen zustand.
je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr fragezeichen bilden sich in mir.
vielleicht habe ich angst davor, dass ich mich nicht mehr unter kontrolle halten kann. dass ich noch einmal diesen fehler tue.
obwohl ich das auch nicht verstehe, denn ob ich lebe oder nicht, das spielt für mich keine große Rolle. je mehr ich über das thema nachdenke, desto deutlicher spüre ich eine endlose Leere in mir. meine größte Angst ist aber,dass ich diesem Käfig nie entkomme. dass ich mein Leben lang so lebe,wie sie es tun. Das macht mir verdammt große Angst. und tut extremst weh. denn so lange ich zu hause bin,so lange meine Vorstellungen,Wünsche von meiner Familie unterdrückt werden, kann ich nicht glücklich sein.
..Ich sehne mich nach Liebe,nach Geborgenheit.
einmal,ein einziges mal sagten meine eltern "wir haben dich lieb" zu mir. das war damals im mai, als ich im krankenhaus lag und beinahe gestorben wäre. diese worte sind wertlos für mich. denn sie kamen nicht von Herzen.das weiß ich!
ich versteh es nicht. dass ich mir trost bei alkohol suche. dass ich trinke um zu vergessen. ich verstehe es nicht, weshalb ich wieder und wieder nach dem messer greife. aber ich kann nicht mehr... vielleicht kommt das jetzt sehr absurd rüber aber,ich kann mir nicht vorstellen,irgendwann mit dem trinken aufzuhören.
nächstes jahr, werde ich 18. es sind noch knappe elf monate.
vielleicht hätte ich die kraft durchzuhalten. ich weiß es nicht.
wenn ich wüsste, wenn ich wirklich wüsste, mit 18 habe ich es geschafft, mit 18 komme ich weg von zu hause, ja, dann würde ich vermutlich weiterkämpfen.
aber ... das ist längst nicht sicher.
ich habe dann noch 1 1/2 jahre schule. ich habe nicht das geld, mir eine wohnung zu bezahlen. meine eltern würden mich 99%ig verstoßen, wenn ich von zu hause wegziehen würde. da bin ich mir fast sicher.
tut mir leid, ich kehre immer wieder auf das eine zurück aber, nach dem mai hat sich so vieles verändert. zu vieles.
bis dahin habe ich meinen eltern alles gesagt , was ich denke. sprich, wenn sie mich was fragten bzgl. des islams, sagte ich ganz einfach,dass ich damit nichts zu tun habe. wenn sie mich fragten,ob ich an allah glaube sagte ich nein.
die schläge die ich dafür bekam nahm ich in kauf.
aber jetzt - ich spiele das perfekte mädchen zu hause. ich tu alles dafür,dass meine eltern glücklich sind. ich spiele die gläubige, die sich darauf freut, in den sommerferien für alle 6wochen in die türkei zu fahren. ich tue so,als würde ich abends beten,als würde ich fasten, und und und.
dabei ist es nicht so - nein, es ist das gegenteil.
ich bin ein mensch, der zu seiner meinung steht. aber zu hause ... es ist,als würde jemand mich festhalten, nur festhalten, dass ich die wahrheit nicht nach außen bringe.
ich ertrag das nicht mehr.
ich habe ein schlechtes gewissen, dass ich ständig meine eltern anlüge, .....
was kann ich machen?!
zu gerne würde ich all die probleme lösen. und ich bin auf dem verkehrtesten Weg,denke ich,denn probleme lösen sich nicht,in dem man sie verschweigt. !
seit märz, habe ich einen freund. mein erster freund. ich bin stolz darauf,doch ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann.
vielleicht,wenn er es wirklich ernst meint, könnte ich nächstes jahr zu ihm ziehen. wenn ich das nur wüsste...
wenn ich wüsste,dass er es wirklich ernst meint,dass er mich ernsthaft liebt,
dann würde ich alles rauslassen.
dann würde ich zulassen,dass meine eltern erfahren. dass ich nicht glaube. dass ich trinke.dass ich anders bin als sie.
doch es ist die Angst. angenommen, ich lasse alles raus, und verliere meine eltern. dann stellt sich heraus,das mein freund nur mit mir spielt,er beendet die sache und ..... ich bin im arsch! ob ich dann noch weiterkämpfen kann? ... das glaube ich nicht.
zu gerne würde ich weg sein. einfach weg. nicht mehr bei meinen eltern wohnen. meine Vergangenheit abschließen und ein "Neues Leben" beginnen.
abgesehen von all den problemen die ich habe,kann ich ein sehr fröhlicher und lustiger mensch sein,der über jeden scheiß lacht.
..meine eltern denken,sie könnten mir liebe mit geld kaufen.
alles was ich mir wünsche,von teuren klamotten bis zu teuren Gegenständen, ich bekomme alles was ich möchte.
doch reich ist nicht der,der dies und das besitzt,
reich ist der,der von herzen glücklich ist.
würden sie mir anstatt diese dinge liebe schenken. dann wäre ich glücklich!

es ist mir bewusst: meine eltern werden ihre ansichten niemals ändern. ist in ordnung, ich werde meine ansichten auch nicht ändern.
doch um beide seiten glücklich zu machen, müssen wir uns trennen!
schwarz und weiß verträgt sich nicht.

da ich zu hause das korrekte mädchen spiele,gehen meine eltern,(wie auch immer sie das können) davon aus,dass ich gläubig bin.dass ich so bin wie sie.
ich hab es satt! ich möchte meinen eigenen weg gehen, und nicht einen vorgekauten,der seit jahrhunderten von irgendwelchen menschen gegangen wird.
manchmal frage ich mich: sind meine eltern nur so nett zu mir,um ihren Ruf zu schützen?
(bei uns wird auf den Ruf des Menschen seeehr,seeehr viel wert gelegt. Probleme werden einfach verdeckt,sodass Außenstehende denken,'Wow,eine tolle Familie!'
[auch wenn ich das ungern sage,Ein Beispiel dazu: Eine Cousine von mir, 14 Jahre,wurde von einem Cousin von mir,(ich betone folgendes wort): vergewaltigt.
außer mir hat sie das ihrer mutter erzählt. ihre antwort dazu war,"lass das unter uns sein,mach kein drama daraus. was würden sonst andere von uns denken?"]
ich versteh das einfach nicht. !!! kein bisschen
und darum frage ich mich: lieben mich meine eltern ernsthaft,(das gefühl hab ich in keinster weise), oder geht es nur um ihren gottverdammten Ruf?.)
Therapien hatte ich oft genug, sehr oft, zur Zeit habe ich eine Psychologin, mit der ich 1x pro monat spreche. doch ich schaffe es nicht, ich kann mich nicht öffnen. Es geht nicht.

ehrlich; ich weiß nicht,was ich von ihnen als antwort erwarte.
es tat extremst gut, mir das alles von der seele zu schreiben. sonst kann ich mit keinem so offen über das ganze reden.
wenn sie das alles wirklich gelesen haben, und mir ein paar wörtchen dazu zu sagen haben, würde ich mich wahnsinnig freuen.
wenn nicht, es ist für mich auch eine Freude zu wissen, dass sie sich zeit genommen und meine geschichte gelesen haben.

herzlichen Dank!

Viele liebe Grüße
B.