Problem von Alex - 22 Jahre

Mein Vater nervt nur noch seit er in Ruhestand ist

Ich bin 22 Jahre, Single und wohne bedingt durch mein Studium noch zu Hause. Ich wäre schon längst ausgezogen, aber finanzielle Abenteuer würde ich eigentlich gerne vermeiden. Außerdem habe ich eine eigene abgetrennte Wohnung bei uns im Haus. Ich hatte mit meinen Eltern bis jetzt auch noch nie wirkliche Probleme.

Aber seit mein Vater mit Mitte Sechzig aus dem öffentlichen Dienst (Verwaltung) in Rente gegangen ist, wird es immer unerträglicher mit ihm. Er ist absolut heute nicht mehr Kritikfähig, sondern wird sofort hektisch, brüllt/schreit herum und beleidigt mich. Ein Gespräch mit ihm ist nicht mehr möglich. Aber gleichzeitig benimmt er sich immer peinlicher und muss ständig Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Mal ein Beispiel: Wir haben hatten Karten für eine Betriebsführung und da meine Mum eine Grippe hatte, bin ich mit gegangen. Mich hat die Veranstaltung außerdem interessiert. Meine Vater arbeite in der gleichen Branche früher, muss ich dazusagen. Soweit so gut. Er hat die ganze Führung dazwischen geredet, besserwisserische Kommentare abgegeben und seiner Meinung nach schlechte Einrichtungen niedergemacht. Es war unerträglich für mich und die anderen Gäste haben nur noch geguckt und sich in der Kantine möglichst weit weggesetzt. Aber ihm ist nichts aufgefallen und er fand sich noch toll, dass er alle Details es Vortragenden schon wusste. Darauf angesprochen, bekam ich erstmal zu hören, mach’ du erstmal deine Ausbildung fertig etc. (original u.a. „lerne wohin die anderen geschissen haben, dann kannst du mitreden“). Früher haben meine Eltern wert auf eine gewählte Ausdrucksweise gelegt, heute höre ich ständig Schimpfkanonaden und ordinäre Ausdrücke von ihm. Ein weiteres ständiges Streitthema sind PCs/ Handy und sonstige technische Geräte, er kann nicht damit umgehen, verstellt immer alles und klickt überall drauf. Nur wenn man ihm dann helfen soll und fragt, was passiert ist, sagt er, er habe absolut nichts gemacht (er benutzt die Gerät aber alleine!) und fängt an zu brüllen/schreien. Nachdem ich mich durch die ständigen Streitereien geweigert habe noch irgendetwas zu machen, ist selbst ein PC-Techniker ohne Bezahlung aus dem Haus geflüchtet, weil er sich mit ihm genauso angelegt hat. Jetzt hängt die Sache also nach gutem Zureden meiner Mum wieder an mir. Genauso darf man ihn beim Nachrichten (er guckt 18-20.15 Uhr jede News-Sendung) oder Quizgucken gucken nie stören und es muss absolute Ruhe herrschen in Wohnzimmer nähe. Wenn es dann gerade mal eine Woche keine Streitereien geben hat und der Umgang distanziert aber freundlich war, dachte ich okay, es wäre nett, wenn er meine Semesterarbeit Korrekturlesen könnte. Erst alles kein Problem. Aber als ich dann irgendwann auch mal Ergebnisse wollte, stellte sich heraus, dass er die Arbeit einfach beiseite gelegt hat und nicht gelesen hat. Mir aber gleichzeitig immer wieder gesagt, er würde es machen. Sonst hat er immer wert auf Ordentlichkeit und Zuverlässigkeit gelegt. Okay, ich habe zwar schnell Ersatz gefunden, aber die Art mit mir so umzugehen, fand ich nicht schön, da ich immer zu hören bekomme mein Studium fertig zu machen. Genauso finde ich den ständigen Alkoholkonsum meines Vater etwas bedenklich: Er trinkt jeden Abend alleine eine halbe bis ganze Flasche Wein. Frührer haben meine Eltern mal am Wochenende gemeinsam ein Gläschen getrunken. Meine Mum darf gesundheitsbedingt keinen Alkohol mehr trinken. Meine Mum hält sich meint aus allem heraus und sagt so gut wie nichts zu den Streitereien und wenn sie etwas sagt, ergeht es ihr wie mir. Sie wird angeschrieben. Ich versteht nicht warum sie immer noch zu ihm hält – zumal wir ohne Probleme in eine Immobilie von ihr ziehen könnten (gut über 20 Jahre Ehe sind etwas).

Ich weiß langsam nicht mehr weiter mit meinem Vater, zumal er überhaupt kein Gespräch zu lässt, dann könnte man noch einen Dialog führen. Es war auch früher schon nicht einfach und ich hatte immer ein etwas distanziertes Verhältnis zu ihm, aber jetzt kommt noch diese Hektik, Unruhe und Uneinsichtigkeit dazu. Meine Mum würde ich ungern alleine lassen, da ich ein sehr gutes Verhältnis zu ihr habe und auch weiß, dass sie unter der Situation leidet. Früher hat sie beispielsweise jede Woche Blumen bekommen von ihm, heute bringe ich ihr meist welche mit, da sie sonst keine bekommt. Meine letzte Freundin ist weggelaufen, weil mein Vater nur an ihr herumgenörgelt hat und langsam leid auch mein Studium. So kann es einfach nicht weitergehen…

Marv Anwort von Marv

Hey Alex,

Der Ruhestand ist für viele Menschen eine Erlösung, für nicht wenige aber auch ein echter Fluch. Bei deinem Vater scheint eher das zweite der Fall zu sein. War er denn sehr stark in seiner Arbeit verwurzelt? Ein Workaholic? Arbeiter mit Leib und Seele? Für mich klingt es nämlich so, als hätte die Rente ein Loch in seinem Leben hinterlassen, das er jetzt nicht mehr füllen kann. Diese Unausgeglichenheit und Unruhe lässt eigentlich darauf schließen, dass er einfach total unausgelastet ist. Hat dein Vater denn Hobbies oder sonstige Beschäftigungen, die viel Zeit in Anspruch nehmen? Für mich entsteht der Eindruck, dass er nicht vollkommen zufrieden ist mit seinem derzeitigen Leben und diese Beschäftigungslosigkeit ihn etwas mitnimmt. Natürlich steht es mir hier eigentlich überhaupt nicht zu, diese Mutmaßungen anzustellen, aber das ist das, was ich aus deinem Schreiben herauslese. Was ich damit eigentlich erreichen möchte, ist folgendes: Machst du dir selbst viele Gedanken über die Beweggründe deines Vaters? Denkst du oft darüber nach, was ihn in einer für dich nervigen Situation zu seinem unpassenden Verhalten bewegt?

Besonders schwierig ist hier, dass du sagst: Mein Vater lässt kein Gespräch zu und ist nicht kritikfähig. Schön und gut, aber das einzige, was meiner Meinung nach Besserung für dein Problem herbeiführen kann, ist ein Dialog. Am allerwichtigsten ist, dass ihr das in einer angenehmen Situation, in der ihr euch beide wohl fühlt, angeht. Zum Beispiel nach der Tagesschau. Es ist für ihn eine entspannende Maßnahme, jeden Tag die Nachrichten zu schauen. Der Mensch braucht Rituale, der eine mehr, der andere weniger. Dein Vater scheint hier eher ein Gewohnheitstier zu sein. Setzt euch zu einem Gläschen Wein zusammen, oder auf ein Bier oder ähnliches (Ich gehe jetzt nicht auf seinen Alkoholkonsum ein, dazu habe ich zu wenig Informationen. Eine Flasche Wein pro Abend ist aber -wenn regelmäßig konsumiert- zu viel!). Wichtig ist, dass du dich auf eine Ebene mit ihm begibst, auf der ihr kommunizieren könnt, denn er wird dir vermutlich eher nicht entgegenkommen. Beschuldige ihn nicht, sondern interessiere dich für ihn. Versuche ihm das Gefühl zu geben, dass er und seine Probleme wichtig sind, genauso aber auch, dass du dir ein wenig Sorgen machst. Vorausgesetzt ist hier natürlich immer, dass du selbst auch wirklich bereit bist, dich auf so ein Gespräch einzulassen. Vielleicht kommt ja etwas dabei heraus. Zumindest versuchen solltest du es, denn wenn du nicht aktiv wirst, wer dann? Deine Mutter scheint sich nicht zu trauen, oder sie sagt sich: "Naja, so ist es eben." Und von alleine wird sich dein Vater auch nicht ändern, da er mit dem Trott, in dem er sich befindet, zufrieden zu sein scheint.

Auch deine Mutter kannst du mal für ein vier-Augen-Gespräch zur Seite nehmen. Rede einfach mit ihr darüber, was euch beide stört. Über konkrete Maßnahmen, wie ihr vielleicht dem fremd gewordenen Vater helfen könnt. Zum Beispiel, dass du beiden zusammen mal einen Computer-Crashkurs gibst. Es bringt ja nichts, sich nur darüber aufzuregen, dass er immer alles verstellt. Er kann es eben (noch) nicht besser, scheint sich aber dafür zu interessieren. Nur solltet ihr ihn keinesfalls gemeinsam "zur Rede stellen". Denn sonst könnte er leicht wieder das Gefühl bekommen, angeklagt zu werden. Ich gegen euch. Und diese Konfrontationsstimmung wollt ihr dringend vermeiden, da ihr so nicht weiterkommt.

Vielleicht fühlst du dich jetzt gerade ein wenig unfair von mir behandelt, weil ich immer nur geschrieben habe: Du musst dies, du kannst das, du solltest... Es ist nicht einfach, wenn man selbst aktiv werden muss, vor allem in einer so schwierigen Angelegenheit. Vielleicht fühlst du dich sogar ein bisschen angefressen, weil ich scheinbar deinem Vater jegliche Schuld abspreche. Ganz und gar nicht, ich verstehe dein Problem sogar sehr gut, weil ich selbst viele Jahre lang in einer ähnlichen Situation gelebt habe. Im Nachhinein würde ich mir wünschen, dass ich früher etwas unternommen hätte.

Also: sei mutig, du bist ein erwachsener Mann. Suche ein Gespräch unter Männern und lass dich von kleinen Rückschlägen nicht entmutigen. Wenn ihr es schafft, euch mal einfach so ganz zwanglos zu unterhalten, ist das schon ein guter erster Schritt.

Ich hoffe, ich konnte dir helfen und wünsche dir und deiner Familie nur das Beste.
Ganz viele Grüße
Marv