Problem von anonym - 19 Jahre

Schizophrenie? Ich weiß nicht mehr weiter...

Hallo, liebes Kummerkasten-Team.
Erst einmal viel Lob für eure Arbeit und die Funktion, die einem jetzt per Mail Bescheid gibt, wenn ein Problem nicht angenommen wurde – das erspart einem unnötiges Warten, danke dafür.
Ich habe ein Problem, wobei ich nicht recht weiß, wie ich es betiteln soll, außerdem hoffe ich, dass ich mich nicht allzu wirr ausdrücke.
Ich schreibe Geschichten, und Bücher, zumindest arbeite ich auf ein Buch hin. Ich glaube, es gibt in meinem Leben nichts wichtigeres, als zu schreiben und ich habe auch öfter das Gefühl, dass die Euphorie, die ich beim Schreiben empfinde der Verliebtheit extrem nahe kommt.
Nun habe ich ein Problem, dass im Moment einfach meinen Kopf einnimmt.
Ich habe einen Charakter, den ich in jahrelanger Arbeit aufgebaut habe. Natürlich ist er nicht der Einzige, aber aus irgendeinem Grund hat er eine ganz besondere Stellung in meinem Leben eingenommen. Es ist vielleicht schwer, sich das vorzustellen, aber ich bin wahrscheinlich 99% meiner Zeit damit beschäftigt, daran zu denken, was ihm in der Geschichte passiert, oder auch einfach nur an irgendwelche Szenarien zu denken, die er durchleben könnte. Es ist wie Tagträumen, nur das ich nicht mich selbst dabei verwende, sondern ihn.
Das allein wäre eigentlich kein Problem, aber ich habe immer mehr das Gefühl, dass er das wirkliche Leben lebt und mein Leben nur eine Art Projektor dafür ist. Es ist, als wäre ich eine Plattform, auf der das wirklich Leben stattfindet. Ich lebe manchmal nur vor mich hin und verbringe die Zeit damit, an sein Leben zu denken. Das hat immensen Einfluss auf mein Leben. Wenn ich meine Freundin küsse, denke ich manchmal plötzlich daran, wie es wäre, wenn ich er wäre, mit seiner großen Liebe. Wenn ich vor dem Spiegel stehe, weiß ich inzwischen nicht mehr, ob ich männlich oder weiblich aussehe, wobei meine Freunde mir versichern, dass ich ganz sicher wie ein Mädchen aussehe. Ich dafür kann es nicht mehr differenzieren und komme mir teilweise so vor, als wäre ich eigentlich männlich. Wenn ich etwas Schönes erlebe denke ich nur daran, wie es aussehen würde, wenn er das erleben würde.
Ich fühle mich, als würde mein Leben immer mehr von ihm dominiert werden – als würde es sich unter seinem Einfluss auflösen und schließlich nichtig gemacht werden, um dann von seinem abgelöst zu werden.
Es hat ganz harmlos angefangen, ich mochte den Charakter einfach gern und es hat mir viel Spaß gemacht, mit ihm zu arbeiten. Aber desto mehr ich mich mit ihm beschäftigt habe, desto mehr Veränderungen sind mir aufgefallen. Es fing damit an, dass es mir nicht mehr gefiel, ein Mädchen zu sein. Ich wollte lieber ein Junge sein, aber da ich dann herausfand, dass ich lesbisch bin, dachte ich, dass es davon kam, dass ich mich einfach in Frauen verlieben wollte. Aber obwohl ich jetzt glücklich bin, ein lesbisches Mädchen zu sein, ist der Wunsch irgendwie geblieben. Inzwischen frage ich mich sogar, ob ich im falschen Körper geboren bin und eigentlich ein Mann sein sollte – manchmal denke ich sogar über eine Operation nach. Dann aber kommt immer der Gedanke, dass ich eigentlich gar nicht anders werden will – mir gefällt mein Leben, aber irgendetwas dringt immer wieder darin ein und versucht, mich in eine andere Richtung zu drängen. Es ist, als würde er in manchen Momenten, in denen ich vor dem Spiegel stehe, in meinem Kopf auftauchen und mir zuflüstern „Du willst mein Leben, du willst wie ich sein.“, wenn ich nicht sogar denke, dass ich bereits er bin – irgendwie. Das ist furchtbar schwer zu erklären, aber ich versuche mal, das Gefühl zu beschreiben.
Ich stehe vor dem Spiegel, sehe mich an und sehe irgendwie…ihn, mit den schwarzen Kopfhörern, dem dunkelroten T-Shirt…Und dann denke ich daran, dass wir uns irgendwie einen Körper teilen, ein Leben, und dass ich eigentlich die ausgedachte Figur sein sollte, weil es sein Leben ist.
Ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Es kommt mir so vor, als könnte ich niemals wirklich glücklich sein, weil er das wirkliche Leben leben darf und ich nicht.
Bin ich schizophren? Ich habe gehört, dass Autoren öfter mal ein wenig sonderbar sind, und ich kann mir auch vorstellen, dass es daran liegt, dass man so viele, verschiedene Charaktere entwickelt und sich in jeden von ihnen hineinversetzen muss. Ich will damit auch auf gar keinen Fall aufhören, aber ich möchte endlich glücklich sein.
Ist das normal? Ist das eine Autorenkrankheit oder so etwas in der Art?
Woher kommt der große Wunsch, er zu sein? Sein Leben ist nicht einmal perfekt. Und mein Leben ist eigentlich schön, nahezu perfekt! Ich mache jetzt mein Abitur, ich gehe Hobbies nach, die ich liebe, treibe Sport, habe eine gesunde Einstellung zu meinem Körper, Freunde, mit denen ich viel gemeinsam habe und die mich mögen, so wie ich bin. Eigentlich sollte ich furchtbar glücklich sein.
Was also wünsche ich mir dann noch? Warum kommt mir mein Leben so nutzlos vor? Wieso beherrscht sein Leben mich so? Warum stehe ich vor dem Spiegel und wünsche mir, er zu sein?
Was seit dem letzten Mal passiert ist, als ich dieses Problem eingeschickt habe, wollte ich noch schnell beschreiben:
Inzwischen geht es mir richtig schlecht. Seit einem bestimmten Ereignis in meiner Geschichte fühle ich mich einfach furchtbar. Meine Hände zittern, mir ist dauernd übel und ich kann nichts mehr essen. Ich bin furchtbar unruhig und kann nicht lange still sitzen, weil da dieses Gefühl in meinem Magen brennt, das mich ständig von einem Ort zum anderen treibt. Ich kann an nichts anderes mehr denken, versuche aber, mich davon abzulenken und bewusst etwas anderes zu machen. Ich habe auch bereits überlegt, die Story zu ändern, aber das fühlt sich einfach nicht richtig an und würde in meinem Kopf irgendwie auch nicht gelten. Ich kann nicht mehr richtig schlafen, wache ständig auf und träume davon. Dabei hat mein Charakter nur vedammtes Liebeskummer!
Es ist ein echter Albtraum. Ich will das so nicht, kann aber auch nichts dagegen machen. Ich bleibe Nachts bis zum Morgengrauen wach, um die Geschichte weiter zu schreiben und über diesen Punkt hinaus zu kommen.
Ich habe Angst, dass das meine schulischen Leistung darunter leiden werden – denn ich hatte eine solche Situation schon einmal, in einer anderen Form. Damals aber ist etwas erfreuliches in der Geschichte passiert, und das hat mich den ganzen Tag beschäftigt. Es hat mich glücklich gemacht, hat aber auch dafür gesorgt, dass ich 4 Punkte in einer Klausur geschrieben habe. Das Leben meines Charakters beschäftigt mich einfach viel mehr als mein eigenes und viel mehr, als es gesund wäre.
Ich weiß, was sie inzwischen denken: „Warum schreibt sie dann nicht einfach etwas, was ihr gefällt? Sie kann die Geschichte doch beeinträchtigen.“
Das klingt so einfach, und doch ist es für mich unmöglich, die Story wieder abzuändern. Es würde sich einfach falsch anfühlen und damit komme ich nicht klar. Werde ich jetzt verrückt? Drehe ich vollkommen durch?
Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Ich hoffe, ihr könnt mir eine Antwort geben.
Liebe Grüße

Dana Anwort von Dana

Liebe Unbekannte!

Ich habe mir dein Problem mal geschnappt, weil ich es - wenigstens ansatzweise - kenne.

Vor längerer Zeit habe ich bei einem Wettbewerb mitgemacht. Dort musste man einen Charakter erfinden, ihm Stärken, Schwächen und eine Vorgeschichte geben und dann mit anderen Mitbewerbern zusammen, bzw gegeneinander schreiben, unter Verwendung des eigenen Charakters und unter Verwendung des Charakters der dir zugeteilten Person.

Mein Charakter war weiblich wie ich - und je mehr ich mich mit ihr auseinander setzte, desto mehr ging mir das nahe. Es war eine melancholische Figur, tragisch, mit einer schlimmen Vergangenheit, mit einem sehr verletzten Herzen und bei aller Liebessehnsucht mit einer starken Skrupellosigkeit. Während der Wettbewerbsrunden merkte ich, dass ich oft schlecht drauf war, schlecht gelaunt, manchmal weinend...und ich dröhnte mich immer mit derselben Art Musik zu, die mich in die "Schreibstimmung" versetzte.

Ich glaube, dass man oft den Schreibcharakter unbewusst nach einer Seite seines Selbst aussucht. Er ist ein Spiegel eines Teils von sich selbst, den man vielleicht bewusst gar nicht wahrnimmt. Ich habe mich nach dieser Sache mal damit etwas beschäftigt und bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Schreibcharakter mein Unglück ausdrückt, dass es mir im Leben zu dem Zeitpunkt seelisch nicht gut ging, obwohl ich dachte, es ginge mir gut. Ich habe darin alles ausgelebt, was in mir war und was in mir eigentlich gar nicht sein wollte. Mein Charakter war zB auch unglaublich brutal, wenn sie angegriffen wurde, was laut Spielregeln passieren musste.

Ich denke, deine Geschichte mit deinem Helden ist ein großes Ventil für dich, so wie es das damals für mich war.

zB deine Sexualität, die du entdeckt hast. Die Gewissheit, dass du lesbisch bist, hat sich ja dadurch erst entwickelt. Auch andere Dinge können durch deine Geschichte an die Oberfläche kommen.

Allerdings gilt es auch immer klar zu sehen: deine Geschichte ist nie mehr als ein Ventil. Sie darf nicht die Realität ersetzen. Es wäre meines Erachtens wichtig, die Geschichte der Realität gegenüber zu stellen, du schreibst ja selbst, wie schön dein Leben eigentlich ist. Mich hat meine Geschichte damals so mit Beschlag belegt, dass ich irgendwann aufhörte und pausierte. Vielleicht wäre eine Pause bei dir auch angebracht, um mal wieder "runter zu kommen".

Ich glaube nicht, dass du schizophrene Züge aufweist, denn dir ist ja alles bewusst, was da abläuft. Aber mit Sicherheit hast du eine sehr große Fantasie, die dein Leben färbt. Wie gesagt, ich kenne das gut von mir selbst. Ängste im Dunkeln und Panikattacken waren damals nichts Ungewöhnliches, neben dieser grauen Stimmung. Ich habe gelernt, Abstand zu halten. Das Schreiben darf eine bestimmte Grenze einfach nicht überschreiten. Du bist immer noch du und eigentlich gefällst du dir auch, wie du bist. Dein Charakter ist mit Sicherheit sehr toll ausgedacht, du kannst richtig reinschlüpfen. Aber du musst auch immer wieder rausschlüpfen. Dass du schon gar nicht mehr weißt, ob du nun männlich oder weiblich bist, liegt meines Erachtens nicht daran, dass dein Schreibcharakter männlich ist, sondern eher daran, dass du dir selbst nicht sicher bist, wer und was du sein willst.

Und das solltest du, ungeachtet deines Buches, heraus finden. Was willst du im Leben? Wer willst du sein? Stehst du dazu, eine junge Frau zu sein? Fühlst du dich in der Realität gut? Und vor allem: "Kann ich Realität und Buch trennen?" Denn das ist eigentlich ein Muss, ansonsten zerrt einfach zu vieles an dir.

Ich bin keine Fachfrau für Verhaltenstherapie, ich kann es nur aus meiner eigenen Erfahrung heraus beschreiben. Vielleicht würde es sogar helfen, mal jemanden vom Fach anzuhören. Dazu könntest du einfach mal einen Termin bei einem Psychologen ausmachen (am besten bei mehreren, nicht mit allen kann man gleich gut und nicht bei allen bekommt man sofort die Möglichkeit zu einem Gespräch), einfach googlen. Vielleicht kann diese Fachperson dann aus deinen Fragezeichen besser Ausrufezeichen machen als ich das mit meinem Laien-Verstand kann. Es ist ja doch ein komplexeres Thema.

Ich wünsche dir auf jeden Fall, dass du die Trennung zwischen Fiktion und Realität hinbekommst. Bei mir war eindeutig wirklich eine Schreibpause nötig.

Dir alles Liebe und viel Erfolg!

Dana