Problem von anonym - 16 Jahre

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Mein Freund hat sich heute vor einem Monat und einer Woche umgebracht. Er hatte jahrelang Depressionen und hat es auch schon mehrmals versucht. Ich war ca. ein Jahr mit ihm zusammen. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Dennoch war es eine wunderbare Zeit.
Ich hatte vorher noch nie so starke Gefühle für einen Menschen, deswegen bin ich jetzt so ziemlich an dem Punkt angekommen, an dem ich ihm endlich wieder nah sein will..
Er hat gesagt, ich wäre, solang wir uns kennen, sein Grund zu leben gewesen. Es ist nur so, dass er mir gesagt hat, dass er es tun wird. Er hat mich angebettelt und gefleht, es niemandem zu sagen. Und das hab ich dann auch nicht getan. Zum Einen, weil ich der Meinung war, dass er es nicht ernst meint.. und zum Anderen, weil ich glaubte, das würde ihm endlich seinen Seelenfrieden bringen.
Jetzt geht es mir unsagbar schlecht. Ich habe das Gefühl, ich wär an allem schuld. Und klar, ihr könnt jetzt schreiben, dass es nicht so ist, weil ihr Berater seid usw. Aber bitte, schreibt eure Meinung als Menschen, nciht als Berater oder Psychologen, bitte.

Stefan Anwort von Stefan

Liebe Unbekannte,
wenn ich Dir jetzt schreibe, dass Dich keinerlei Schuld trifft und Dir verspreche, das ich es schreibe, weil ich es wirklich so meine und nicht weil ich denke, dass ich es schreiben muss, glaubst Du es mir dann?
Wenn ja, dann lies bitte weiter - wenn nicht, kannst Du hier aufhören, meine Antwort zu lesen, weil dann wird es Dir nichts bringen.

Es tut mir wirklich leid, dass Du gerade in einer solch schwierigen Situation bist. Ich kann verstehen, dass Du Dir Vorwürfe machst. Du hattest Deinem Freund versprochen, niemanden von seinen Gedanken zu erzählen und hast dieses Versprechen gehalten. Dieses Entscheidung hast Du getroffen und solltest sie jetzt auch nicht mehr anzweifeln - ändern kannst Du sie nicht mehr.

Hättest Du jemanden gesagt, dass Dein Freund sich umbringen möchte, wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach in eine geschlossene Psychatrie zwangseingewiesen und erst wieder entlassen worden, wenn er als "geheilt" gegolten hätte - das hätte Wochen, Monate oder Jahre dauern können.
Natürlich muss kranken Menschen geholfen werden - und Depressionen sind eine Krankheit. Doch meiner Meinung nach, muss jeder Mensch trotzdem noch selbst entscheiden können, ob er sich behandeln und helfen lassen möchte.

Ich denke, wenn Dein Freund gewollt hätte, hätte er sich Hilfe gesucht. Er hat für sich entschieden, dass er sich nicht helfen lassen möchte.
Das zu akzeptieren ist schwer. Aber wenn ein Krebspatient eine Chemotherapie ablehnt, weil er die Qualen nicht durchstehen möchte, ist das sein freier Entschluss - und wenn ein Patient mit Depressionen es ablehnt, sich therapieren zu lassen, dann ist es ebenso seine Entscheidung. Nur einen Krebspatienten würde niemand zur Chemotherapie zwingen; einen depressiven Menschen würde man aber unter Zwang behandeln. Obwohl beide gleichermaßen für sich entschieden haben: ich lebe mein Leben in Würde und bestimme selbst, wie, oder eben auch das es endet.

Du gabst Deinem Freund das Versprechen zu schweigen. Das war für Dich eine schwere Entscheidung, die Dir jetzt besonders nachhängt. Aber jemanden wirklich zu lieben, heißt auch etwas mitzutragen, um den anderen glücklich zu machen. Er vertraute Dir - und Du hast sein Vertrauen nicht enttäuscht.

Es tut mir wirklich leid, dass Du soetwas durchleben musst. Aber erinner Dich an die schönen Zeiten, die Ihr gemeinsam hattet. Behalte diese in Erinnerung und zerbrich Dir nicht den Kopf darüber, dass Du an irgendetwas Schuld hast. Das hätte Dein Freund sicher nicht gewollt.

Was wäre beispielsweise gewesen, wenn Du ihn "verraten" hättest und er sich in einer Psychatrie das Leben genommen hätte? Er wäre von Dir enttäuscht und unglücklich gestorben. Du hast ihm seinen Wunsch erfüllt und ihn selbstbestimmt und frei sterben lassen.

Das es schwer für Dich ist, das so zu sehen, kann ich nachvollziehen. Aber glaub mir bitte, das Du Dir keine Vorwürfe machen brauchst - sondern im Gegenteil sogar stolz auf Dich sein kannst. Trotz dass Du wusstest, dass Du ihn verlieren wirst, hast Du Dein Versprechen gehalten und Deine Belange hintenangestellt. Das war schwer, ist schwer und wird auch immer schwer bleiben. Aber es war Deine Entscheidung und es war eine, die Du nicht bereuen musst.

Ich wünsche Dir viel Kraft und alles Liebe!

Liebe Grüße
Stefan