Problem von Anonym - 22 Jahre

Angst vor Wohnung

Hallo liebes Kk-Team,

ich schreibe euch, weil ich ehrlich gesagt etwas verzweifelt bin.
und in einer schwierigen Situation:
Alles hat damit angefangen, dass ich in eine Wohnung ziehen wollte, weil ich lernen will auf eigenen Beinen zu stehen.
Dummerweise habe ich einfach die günstigste Wohnung genommen, ohne auf den Wohnort zu gucken. Ich weiß nicht so recht, wie ich das erklären soll, ich hatte den Drang, schnell auszuziehen und habe mir die Wohnung angeschaut. Der Vermieter hat mir eine knappe Frist gesetzt und die Wohnung an sich fand ich auch schön. und ich hab mir gedacht: bevor du danach Monatelang suchst, sagst du lieber zu. Dann habe ich die Wohnung bekommen. Mit den Konsequenzen habe ich so nicht gerechnet.
Es macht mich ein bisschen fertig. Die Wohnung ist zwar in meiner Heimatstadt, aber sie liegt ganz am Rand und ist im Prinzip in einem kleinen Dorf, wo ich niemanden kenne. Deshalb fühle ich mich dort auch nicht wohl. Noch bin ich nicht eingezogen, aber ich bin im Umzug. Ich hatte mir jetzt vorgenommen, so lange in der Wohnung zu bleiben, bis ich etwas in der Innenstadt finde.
Egal, mit wem ich über meinen neuen Wohnort rede, immer bekomme ich antworten wie: "was, DAAA ?" oder "SOO weit weg ?" oder "Warum ziehst du DAAA denn hin ?". Und iwie habe ich das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben. Ich habe extreme Schuldgefühle, fühle mich total wertlos und im prinzip wie der letzte dreck. Alle Leute, die ich kenne, wohnen weit weg davon. Sogar mein Friseur, der ja nun wirklich nichts davon hat, hat mir gesagt, dass es eine extrem schlechte Idee ist, weil ja mein gesamtes Umfeld wegbricht. Leider hatte ich den Mietvertrag bereits unterschrieben.
Dazu kommt auch noch, dass meine Eltern mich jetzt noch darauf drängen, mich von all meinen alten Kontakten zu verabschieden, weil diese "zu primitiv" für mich wären. Und das regt mich auch auf. Mein Freundes- und Bekanntenkreis besteht zum Großteil auch aus Leuten, die ich von der Schule kenne und die tw. mit mir an die gleiche Uni gehen. Sie sind alle nett, ich verstehe mich super mit ihnen. Dass alle Kontakte wegen der neuen Wohnung abbrechen könnten, oder dass ich mich nur noch mit "Leuten auf gleichem Niveau" (wie es mein Vater sagt, natürlich ist dieser Vergleich nur wenn man arrogant ist) abgebe. Natürlich denke ich so nicht, so will ich nicht sein, so will ich nicht werden und so will ich nicht denken. Aber jetzt wo ich die neuen Wohnung habe, sagt mein Vater mir das, ich solle mich doch von meinen alten Kontakten trennen, weil diese so primitiv wären. Er meint es zwar nicht böse, aber ich finde diese aussage echt sinnlos und sie verstärkt meine schlechten Gefühle. Das Dumme ist, dass ich jetzt auch schon einen neuen Schrank für die Wohnung gekauft und aufgebaut habe.
Ich fühle mich hilflos, die Gegend dort ist extrem spießig, so wie ich nicht werden möchte. Und trotzdem habe ich diesen Fehler gemacht. Ich mache viel zu viele Fehler, andauernd passieren mir dumme Dinge. Ich muss mir ständig nur Vorhaltungen anhören, aber mache mir selber natürlich permanent auch Vorwürfe.
Der Tag heute ist der Grund, warum ich das hier überhaupt schreibe, denn heute ist es bei mir gefühlsmäßig total eskaliert:
vorweg ein paar Worte zu meinem Vater: mein Vater ist ein hilfsbereiter Mensch, er will nur das Beste für mich und ich will ihn hier nicht in ein schlechtes Licht rücken, trotzdem werde ich gleich ein paar Fakten und die Erlebnisse aufzählen:
als mein Vater und ich heute zur neuen Wohnung gefahren sind, weil mein Vater mir beim Schrank aufbauen hilft, musste ich mir die ganze Fahrt lang Vorhaltungen anhören. Der grund ist, dass ich beim Einzug sehr hinke, da ich nur wenig Zeit habe (im Prinzip nur am Wochenende, da unter der Woche Uni, Job(tutor an der uni) und Ehrenamt). Gut jetzt steht schon ein Schrank, Tisch und Stühle in der Wohnung. Trotzdem hat das seine Zeit gedauert. Das Spektrum der Vorhaltungen: ich bin unorganisiert, faul, kann nicht planen, kann nicht früh aufstehen, mein Engagement(natur) ist widersprüchig, weil ich Stühle von Poco gekauft habe, ich kann nicht mit Menschen umgehen, meine Kontakte sind schlecht (ich soll mich von ihnen verabschieden), ich bin unselbstständig, ich kaufe zu teure sachen (die 0,5 liter flaschen eistee), ich bin desinteressiert, ich tu zu wenig für die Uni ... . All das war natürlich nur als guter Rat gemeint, dafür aber umso realistischer. Das hat mich zur Weißglut gebracht, denn ich empfinde es nicht so, und trotzdem versuche ich, andere Menschen ernst zu nehmen bei dem was sie sagen. Außerdem glaube ich, dass mein Vater mich in eine Rolle drängt, die ich nicht annehmen will ("ich sitze da in meinem kleinen, edlen Zimmer, nur mit Leuten, die "Niveau haben""). Damit fühle ich mich richtig unwohl, denn ich will meine Kontakte aufrecht erhalten. Mein Vater hat mich nicht zum Umzug gedrängt, das war meien Entscheidung, vielleicht die Falsche ?
Während der Fahrt (und Rückfarht) habe ich mich immer unwohler gefühlt. Mein Vater bestimmt gerne Sachen, das ist eben einfach eine Eigenschaft von ihm. Er will nur das Beste, ist dabei aber manchmal etwas zu "bestimmend".
Nach der Fahrt habe ich mich mit Leuten in der Stadt getroffen. Aber gute Laune hatte ich nicht, sondern das Gefühl gleich in Tränen auszubrechen. Ich hab mich zurück gehalten, hatte aber schlechte Laune. Es hat sich so angefühlt, als hätte ich am liebsten die ganze Zeit geschrien, es war so ein ganz komisches, verzweifeltes Gefühl. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, war völlig weg und konnte mich über nichts freuen. kp wie man dieses Gefühl treffend beschreiben kann, ich bin in ein tiefes Gefühlsloch gefallen, es waren unbeschreibliche Gefühle. Am liebsten würde ich hier einen treffenden Ausdruck hinschreiben, aber ich finde keinen. Es war nicht einfach nur ein schlechtes Gefühl, sondern es hatte noch einen richtig widerlichen Beigeschmack und ein ekliges Kribbeln...
..wenigstens konnte ich mich in der Stadt ein kleines bisschen ablenken, doch selbst die Ablenkung wenn ich was getrunken habe (essen hab ich nix runter gekriegt wegen dem Gefühl), konnten das Gefühl immer nur ein bisschen vermindern, aber nie aufheben. Es war schauderhaft wie in einem Albtraum...
Ich hab zwar versucht, gute Laune zu haben, aber so 100 prozentig habe ich das nicht hinbekommen. als wir dann bei meinem Kollegen zu Hause waren (meine Kollegin ist schwanger und hat deshalb manchmal Hormon Schwankungen), hat meine Kollegin mir Fleischwurst angeboten. Da es auch Pizza gab, hab ich gesagt "nach der Pizza". Da ist sie ausgerastet und hat mit einem Messer durch die Küche geworfen. Zum Glück saß ich im Wohnzimmer.. Sie sind eigentlich nett, haben mir auch beim Stühle zusammenbauen geholfen und beim Reintragen der Schrankteile in meine Wohnung. Ich bin mir sicher, es lag mit an meiner Stimmung und hat sich bei ihr als Aggression aufgestaut. Entschuldigt habe ich mich erst dort persönlich und dann nochmal per sms (war nicht erreichbar) und jetzt bin ich mal gespannt wie es weiter geht.
Für mich ist klar: ich kann zwar in dieser Wohnung leben, aber darauf festlegen will ich mich nicht, und wenn diese Gefühle nicht verschwinden nach dem Umzug, muss eine Alternative her. Ich habe auch schon mit meinen Eltern darüber gesprochen. Sie haben Verständnis dafür, sie haben gesagt, ich kann hinziehen wo ich es möchte, solle es aber doch erstmal ausprobieren. trotzdem habe ich Angst, dass es Theater geben wird, aber gleichzeitig auch Schuldgefühle. Ich gehe zwar arbeiten und verdiene damit Geld, aber trotzdem werde ich von meinen Eltern unterstützt. Und ich will diese Unterstützung nicht verschwenden oder in den Dreck ziehen, indem ich 100 mal umziehe. Deshalb habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich gebe auch zu, dass ich mir vorher mehr Gedanken hätte machen sollen, ich habe einen Fehler gemacht, vielleicht aus einem Zwangsgedanken heraus: unbedingt ausziehen zu wollen.
Dazu kommen noch ein paar andere Kleinigkeiten:
in der Uni haben wir ein Praktikum, das momentan nicht so gut läuft. Wir müssen Protokolle abgeben, und die Protokolle von mir sind meistens schlecht. Ich habe schon fast Ärger bekommen. Der Arbeitsaufwand ist ein Krampf und mein Job frisst zusätzlich 8 Stunden in der Woche.
ich BIN unordentlich
ich habe keine Beziehungen mehr (nur früher) und habe Angs als Dauersingle zu enden. Wharscheinlich merken die anderen Menschen, dass ich psychisch momentan angeschlagen bin.

Aber wenn ich mir diesen Text durchlese und dann die endlosen Vorhaltungen in meinem Kopf durchspiele, frage ich mich immer:
SOO schlecht kann ein Mensch doch gar nicht sein. Wie ist es möglich, im Leben so viel Mist zu machen und so viel zu verbocken. Wie ist es möglich alles immer nur schlecht zu machen. Und dazu kann ich eines sagen: Es ist Blödsinn! Ich kann mir nicht vorstellen, so zu sein. Es hat sich jetzt durch die aktuellen Situationen so viel angehäuft, dass ich denke: Junge, das kann nicht die Realität sein, das musst du träumen! Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ich im Leben so viel falsch mache und so viel schlechter bin als andere, auch wenn mir diese ganzen Vorhaltungen gemacht werden (die vielleicht auch nur gut gemeint sind). Trotz meiner Schuldgefühle, trotzdem bin ich doch gneau so viel Wert wie alle anderen Menschen auch. Für mich gibt es eigentlich kein "weniger wert" oder "mehr wert" als andere und ich bin selber davon überzeugt, wertvoll zu sein. Und deshalb verstehe ich mich selber nicht mehr...


Danke im Voraus für eine Antwort
Freundliche Grüße

Judith Anwort von Judith

Lieber Unbekannter,

Das ist aber eine lange Zuschrift gewesen… Ich denke, dass das Schreiben schon etwas geholfen hat, oder? Alles mal raus, auf Papier (oder zur Tastatur) bringen, formulieren, was Dich wirklich stört? Alle Gefühle: Unzulänglichkeit, Angst, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden, Angst, Eltern zu enttäuschen, Angst, die Freunde wütend zu machen, Wut auf den bestimmenden und drängenden Vater, Angst vor schlechten Ergebnisse in der Uni… Und noch dazu sitzt Du in einer Wohnung, wo Du Dich partout nicht wohlfühlst, wo Du überstürzt reingezogen bist. Das alles baut sich zu einem riesigen Berg auf und sieht, so aus, als würdest Du nichts auf die Reihe bekommen.

Aber dem ist nicht so.

Du bist 22: erwachsen! Du studierst, Du verdienst Dein eigenes Geld (zumindest teilweise), Du hast einen Freundeskreis, der Dich stärkt und dem Du vertraust. Du hast auch ein Elternhaus, welches Dich unterstützt und liebt, wenn auch sich das nicht immer so anfühlt.

Hast Du auch Fehler? Klar! Jeder Mensch hat die! Aber die machen noch keinen schlechten Menschen oder Versager aus Dir. Das macht Dich interessant und zu einem Individuum.

Im Zentrum des Problems steht in meinen Augen Dein Vater. Du bist sehr gnädig mit ihm. Du weisst, dass er Dein Bestes möchte, und daher verzeihst Du ihm Übergriffe in Dein Leben, die Du Dir meiner Meinung nach nicht gefallen lassen musst. Teil des Erwachsenwerdens ist es auch, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, auch wenn diese nicht dem Wunsch der Eltern entsprechen! Und auch, dass man seine eigenen Fehler macht! Ich gehe mal davon aus, dass es sich bei Deinen Freunden vom Abi und den Kommilitonen nicht um Verbrecher handelt, sondern dass dies auch ganz normale Menschen sind, die Du magst. Was Dein Vater von denen hält, das kann Dir im Grunde egal sein! Klar, er unterstützt Dich, er will nur Dein Bestes. Aber das, was er für das Beste für Dich hält, muss noch lange nicht das Beste für Dich sein! Viele Eltern leben durch Ihre Kinder Ihre eigenen Träume aus. So werden manche zB über Jahre gezwungen, Klavierstunden zu nehmen, obwohl sie partout total unmusikalisch sind. Oder sie studieren Jura, weil alle Frauen oder Männer der Familie Juristen sind, also müssen sie das ebenfalls eine/r werden… Aber ist das das „Beste“? Das kann man oft bezweifeln.

Also, hab ruhig den Mut, Dich gegen Deinen Vater durchzusetzen. Nimm seine Meinung zur Kenntnis, aber nimm sie als MEINUNG, und nicht als Handlungsanweisung. Vielleicht kommen dann Vorwürfe, aber bleib ruhig! Lass Dich auch keine Diskussion ein! Sag ihm bestimmt aber ruhig, dass Du Deine Freunde magst und er Vertrauen in Dich haben soll, dass Du schon Deinen Weg gehst. Das gilt nicht nur für Deine Freunde, sondern für alle Bereiche Deines Lebens. Du kaufst den Tee, der Dir gefällt, hast die Hobbies, die Dir Spass machen etc.

Was die Situation mit Deinen Kollegen anbelangt: Warum sprichst Du nicht mit ihnen? Musst ihnen ja nicht sagen, dass Dein Vater sie nicht leiden kann. Aber es geht doch um so viel mehr Druck, der aufgrund der angespannten Situation mit Deinem Vater und der Wohnung auf Dir lastet – ein Gespräch mit Personen Deines Vertrauens kann da helfen. Sie bestärken Dich sicher darin, Deine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Prinzipiell solltest Du versuchen, Dein Selbstwertgefühl nicht so stark von der Meinung anderer abhängig zu machen! Du wirst es NIE jedem recht machen können. Dein Friseur findet, dass Dein Wohnort blöd ist? Klar, er will Dich nicht als Kunden verlieren, und darüber hinaus kann ihm das mal total egal sein, wo Du wohnst.

Dass es nicht ideal ist, dort in den Vorort zu ziehen, das hast Du auch schon gemerkt. Jetzt heisst es: Nach vorne gucken und nach Alternativen suchen! Vielleicht setzt Du Dir ein Limit von zB 6 Monaten, in denen Du eine neue Wohnung suchst. Und zwar in aller Ruhe. Überleg Dir, wo Du am meisten Zeit verbringst: Uni, Job, Sport, Hobby, Freunde, Familie… Und dann such! Leg jeden Monat etwas Geld zurück, so dass Du beim nächsten Umzug nicht Deine Eltern belasten musst. Aber selbst wenn, wäre das auch okay! Denk immer dran: JEDER macht Fehler! Und das ist völlig okay, solange man aus ihnen lernt. Übrigens, kleines persönliches Beispiel: Auch ich bin zum Studium in eine neue Stadt gezogen und habe ohne allzu viel Recherche ein Zimmer gemietet… Im Nachhinein frage ich mich auch, wie ich DAS damals machen konnte: Alle Kommilitonen lebten im Zentrum in WGs, nur ich am Stadtrand in einem total lahmen Viertel, in dem um 7 die Bürgersteige hochgeklappt wurden… Aber auch ich habe das überlebt, bin dann eben nach einiger Zeit wieder umgezogen!

Kopf hoch – Du stehst gar nicht so schlecht da!

Sollten Dir meine Zeilen nicht genügen, um Dich positiver zu empfinden und Dich gegen Deinen Vater zu „emanzipieren“, dann kann ich eine Gesprächstherapie empfehlen. Das Gefühl der Unzulänglichkeit, das Du hast, ist ja nicht über Nacht entstanden. Ich gehe davon aus, dass Du diese Muster schon früh in der Kindheit erlernt hast. Und es braucht seine Zeit, um das wieder zu „verlernen“. Google mal „Psychotherapie“ und den Namen Deiner Stadt. Auch viele Unis haben einen psychologischen Dienst, den Du als erste Anlaufstelle in Anspruch nehmen kannst. Die werden Dich dann weitervermitteln können.

Ich wünsche Dir alles Gute.
Judith