Problem von Anonym - 14 Jahre

Ich glaube, ich komme nicht mehr davon los...

Hallo!

Vor etwa zwei Monaten habe ich angefangen, sämtliche "Harry Potter"-Bücher noch einmal zu lesen. Seitdem ich die Romanreihe wieder "verschlinge", kann ich mich auf wirklich nichts Anderes mehr konzentrieren. Meine Eltern haben schon bemerkt, dass ich bei eigentlich allen Aktivitäten nicht wirklich bei der Sache bin. Sie denken aber, dass dieses Verhalten nur von der obligatorischen "großen Langeweile" am Anfang der Sommerferien herrührt, da sich meine Schulnoten nicht verschlechtert haben und mein letztes Zeugnis zugegebenermaßen sehr gut ausfiel. Wie schon gesagt, in den Ferien ist dies nicht sonderlich hinderlich und ich komme noch relativ gut aus. Zu meinem größten Bedauern habe ich mich nun auch noch in eine fiktive Person der eben genannten Buchreihe verliebt, was meiner Meinung nach schon sehr, sehr merkwürdig ist. Nun, jedenfalls versinke ich momentan andauernd in Tagträumen und male mir ständig irgendwelche Szenarien aus. Ich habe schon versucht, meine übergroße Fantasie in sogenannten "Fan Fictions" zu kompensieren oder, was leider sehr albern klingt, ein eigenes Buch zu schreiben, da ich halbwegs wortgewandt bin. Mir ist durchaus bewusst, dass dieses "Universum" nicht real ist und nicht existiert, jedoch wünsche ich mir dies so sehr. Daher versinke ich zunehmend in Trübsal, was schätzungsweise auch daran liegt, dass ich zur Zeit praktisch keine Freunde und kein Lebensziel besitze. Kurz gesagt; Ich verfalle aufgrund dieser Illusion und meiner zu ausgeprägten Fantasie, welche im Kontrast zu meinem minimalen Lebenswillen steht, in eine Art Depression, weil ich weiß, dass diese Welt niemals existieren und mich diese fiktive Person niemals lieben wird. Das alles klingt auch aus meiner Sicht ziemlich albern, quengelig und unrealistisch, aber es ist schlichtweg die Wahrheit. Könnt ihr mir helfen?

PaulG Anwort von PaulG

Grüße dich lieber Anonymer!

Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass es absolut nicht unrealistisch und albern klingt? Es ist sogar gut verständlich! Und ganz ehrlich, es ist klasse, dass du eben nicht dem Sommerloch anheim fällst, sondern produktiv bist. Ich finde es schön.

Es ganz von dir zu weisen, wird, glaube ich, nicht zum Ziel führen - allzumal es dir doch Freude bereitet? Ich halte es für das Beste, wenn du versuchst, aus der Not eine Tugend zu machen: Lass deiner Fantasie freien Lauf! Schreiben wäre genau das, was ich jemandem geraten hätte, der in eine reale Person unglücklich verliebt ist. Allerdings ist Schreiben nicht jedermanns Sache. Wenn es dir gefällt - und es ist durchaus gut möglich, dass das Ergebnis deiner Arbeit sehr gut wird! -, dann möchte ich dir raten, damit fortzufahren.

Natürlich stimmt es: Harry Potters Welt hat es so nie gegeben. Wobei ich jetzt provozieren könnte: Wir können es nicht wissen - wir sind Muggel, wie du weißt. Zunächst mal ist zu sagen, dass diese Welt zwar als Ganzes nicht real ist - aber in ihren Details hat sie sehr wohl einen wahren Kern:

Ms. Rowling hat für ihre Bücher aus den Märchen und Legenden aller Länder und Völker geschöpft. Für die Menschen vergangener Jahrhunderte waren Magier, Werwölfe und Veelas nicht weniger real als gewöhnliche Menschen. Wer nach Irland fährt, wird zwangsläufig mit Leprechauns und Banshees konfrontiert werden - sie sind Teil der Folklore, Erzählungen über sie knüpfen sich an bestimmte Orte und Familien, und wurden von ihnen in alle Welt mitgenommen. Sie sind Teil der Kultur, und daher in gewisser Weise tatsächlich real. Der Glaube an Hexen und Zauberer hatte unschöne Folgen in Europa, die wir nicht leugnen können. Dennoch ist es nach wie vor ein Thema: Wir feiern Halloween und die Walpurgisnacht, manche wenden sich sogar ganz offen magischen Ritualen zu. Wer sich umschaut, wird feststellen, dass sehr viele Elemente der Harry Potter-Romane in der Wirklichkeit wiederzufinden sind; ob es sich nun um Wahrsagerei, Zaubertränke und Talismane handelt, oder um die Vorstellung von Fabelwesen: Das alles gibt es, und die Bücher über Harry Potter leisten einen Beitrag, dass es nicht in Vergessenheit gerät.

Ich möchte behaupten, dass es der Autorin gut gelungen ist, die Legenden der Welt miteinander zu verknüpfen. Zudem ist es einfach interessant, beim Lesen immer neue Gestalten und Rituale zu entdecken, von denen wir sonst nie gehört hätten. Und nicht zuletzt sind die Romane nicht ohne Sinn und Verstand geschrieben. Die Anspielungen auf die wirkliche Geschichte der Menschheit sind unverkennbar:

Wer ist der Plagiator, der die Ideen und Werke Anderer klaut? Gilderoy Lockhart, oder...?
Wer ist der Werwolf Remus Lupin? Sein Problem macht ihn im Buch zu einem Außenseiter, der verfolgt und missverstanden wird. Obwohl er ansonsten ganz normal ist. Das Werwolf-Sein drückt aus, was uns im Umgang mit behinderten Mitmenschen, oder Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe, tagtäglich begegnet. Die Bücher wollen genau das an die Leser herantragen, und das ist ihnen gelungen! Das ist ein großer Verdienst!

Und wenn wir den Bogen noch etwas weiter spannen - jetzt wird es sehr ernst: Kommen dir die Begriffe vom Reinblut, Halbblut, Schlammblut nicht irgendwie bekannt vor? Haben wir nicht auch im letzten Jahrhundert eine "kurze Stille zwischen zwei Kriegen" erlebt? Zwar gibt es in unserer Welt keinen dunklen Lord. Das Böse ist deshalb aber noch lange nicht aus der Welt! Kann es vermutlich auch nie, aber das heißt nicht, dass es schläft!

Gestern hat unsere Nationalelf den Pokal geholt. Das ist die Sternstunde im Leben von elf Männern. Auch ein Viktor Krum hätte sich wie im siebten Himmel gefühlt, hätte er den Quidditch-Pokal gewonnen. Was aber in der Nacht darauf geschah, das geschieht so und ähnlich gerade in brasilianischen Favelas, und überall auf der Welt. Unschuldige werden geschädigt, aber anstatt den Täter zu verurteilen, macht man eine kleine Hauselfe Winky - die zahllose Namen hat! - zum Sündenbock. Auch ein Lucius Malfoy hat unzählige Namen: Heute trifft er sich mit Freunden, um bei Nacht und Nebel ein Verbrechen zu planen - und morgen kauft er in aller Ruhe ein, als wäre nichts.

Wir alle kennen Hermine Granger, Luna Lovegood und Neville Longbottom! Sie sind nicht umsonst so, sondern es gibt sie in jeder Klasse an jeder Schule, auf der ganzen Welt. Wir alle wissen, was ein Vertrauensschüler-Abzeichen ist, und was es heißt, keines zu haben. Wir alle lieben den Honigtopf heiß und innig, und würden manchmal gern im Fuchsbau Zuflucht suchen. Wir alle interessieren uns brennend für die Artikel von Rita Kimmkorn, die ja ach so wahr sind; und wir alle kennen einen Hausmeister Filch, eine Mrs. Trelawney, eine Dolores Umbridge und einen Albus Dumbledore. Oder nicht? Das alles ist real! Es ist keine Flucht vor der Realität, sondern eine Auseinandersetzung mit ihr!

Ich könnte noch unzählige Beispiele machen. Vielleicht gehst du selbst mal auf die Suche, und du wirst merken: Wenn du die Reihe diesen Sommer durch exerzierst, hast du dich mit den Problemen der Welt beschäftigt - hast dich empört, wo man es soll, hast mitgelitten, wo es richtig ist; warst Mensch und nicht Träumer, wo Andere sich die Kante geben (Entschuldigung).

Ein Lebensziel? Findest du am ehesten, wenn du diese Bücher befragst! Du bist jung, du kannst es dir erlauben! Was deine unglückliche Liebe betrifft: Sie hat den Vorteil, dass du sie dir machen kannst, wie du möchtest - wenngleich sie sich nicht erfüllen kann. Da sind die Fan-Fictions - auch solche, die vielleicht nicht für Andere bestimmt sind, sondern deine Gefühle verarbeiten -, die beste Möglichkeit. Deine kommende Freundin wird nie ganz so ein können, wie du es dir jetzt erträumst; es wäre sogar hinderlich, nach jemandem zu suchen, die dieser Person ähnlich ist. Wobei du aber gut sehen kannst: Hat diese Person nicht auch Eigenschaften, die dich stören? Im Moment vielleicht nicht - aber ihr Charakter ist im Buch soweit angerissen, dass du es dir ausmalen kannst. Es wird dich auf die Liebe vorbereiten, und nicht von ihr entfernen. Ich kann dich nur ermuntern, es zuzulassen. Mag sein, dass du es beschränken musst, wenn keine Ferien mehr sind. Das wird dir aber am besten gelingen, wenn du es nicht als etwas Schlechtes ansiehst, sondern als Teil deiner Entwicklung, als Vorliebe, die dich ausmacht - kurz, als etwas sehr Wünschenswertes. Denn was wir zum einen gut finden, andererseits ablehnen, das drängt sich uns umso mehr auf. Es gibt Gedanken, die kommen ungefragt. Auch da ist es das Beste, ihnen irgendwie die Spitze zu nehmen. Bloßes Verdrängen klappt meist nicht.

Ich wünsche dir, dass du deine Leidenschaft annehmen kannst. Sie kann dir nur zum Vorteil gereichen. Natürlich kannst du dir ein Limit setzen. Aber jetzt, wo du Zeit hast - waum nicht voll darin aufgehen? Denn dann wird es dich auch am ehesten wieder zu etwas Anderem hinziehen. Wenn du allerdings jetzt dich zwingen willst, hast du vielleicht irgendwann das Gefühl, etwas übergangen zu haben. Ich bin sicher, dass du davon profitieren wirst - denn Harry Potter ist kein bloßer Traum; Harry Potter sind wir alle.

(SPOILER)

Und eines Tages, das ist unser aller Ziel, wollen wir zufrieden sinnend auf einem Bahnsteig stehen. Das wünsche ich auch dir!

Liebe Grüße,

Paul

Eine Anmerkung: Obwohl es hier eine Weile zu lesen stand, Bulgarien hatte die Quidditch-Weltmeisterschaft nicht gewonnen. Auch wenn wir es Viktor Krum sehr gewünscht hätten.