Problem von Lina - 22 Jahre

Vegetarismus

Hallo Liebes Kûmmer kasten team

nach langem googlen bin ich auf euch gestoßen und hoffe dass ihr Mir weiter helfen könnt. Ich habe vermutlich ein Problem,was nach meinen Recherchen zu urteilen, anscheinend nicht so viele Menschen haben. Ich bin seit 11 Jahren aus moralischen Gründen Vegetarier, das hört ihr wahrscheinlich öfter. Aber dass es das Leben einschränkt, man sich versucht von allen Menschen die Fleisch essen (auch Freunde und Familie) abzuwenden und man fast tägliich abends weint, weil man es nicht ertragen kann, wie viele Tiere leiden müssen, wohl eher selltener. Ich fühle mich als würde ich zwischen Mördern leben, die einfach nur herzlos und egoistisch sind. Ich würde mein Leben dafür geben, damit sich das ändert. Ich will ehrlich gesagt auch nicht mehr in einer Wellt leben, in der Menschen zu so etwas fähig Sind. Dass ich Von Allen Seiten immer noch kommentare zu hören kriege, wie iss doch mal richtig, Oder es ist normal, dass Menschen Fleisch Essen macht es nicht besser. Ich fühle mich einsam, Weil mich niemand versteht. Meine Freunde Und Familie liebe ich über alles, aber ich kann MIT ihrer einstellung nicht leben. mein Freund isst auch fleisch Und oft streiten wir darüber. Ich kann nicht verstehen, dass ich jemanden lieben kann, der auftragsmorde erteilt Und sich dann auch noch am genûss erfreut. Ich habe angst ihn deswegen zu verlieren. Ich kann mich über nichts mehr freuen, Weil ich immer Daran denken muss wie viele tiere Gerade gequält werden. Ich möchte auch ein leben führen können, wo es nur um mich Und mein leben Geht. Ich will Mir auch den kopf ûber meine karriere, freunde, Und sonstiges zerbrechen, wie es alle tun. Ich will nicht dass mein einziges Problem eins ist was man eh nicht lösen kann. Menschen werden immer fleisch Essen, das ist Mir bewusst. Und macht meine situation noch viel viel schlimmer.
vermutlich Sind Sie auch fleischesser Und ich weiß nicht was ich Mir erwarte zu hören. Ich will nur dass es aufhört.

liebe Grüße

PaulG Anwort von PaulG

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Liebe Lina,

ich bewundere dich. Soll ich dir sagen, warum? Weil du zu den Menschen gehörst, für die eine deutlich spürbare Linie vom lebendigen Wesen, zu dem Fleisch auf dem Teller führt. Viele Menschen haben diese Fähigkeit nicht. Ich selbst esse Fleisch und ich kann nicht absehen, ob es jemals anders sein wird. Deine Einschätzung, dass man aus der Menschheit insgesamt keine Vegetarier macht, mag realistisch zu sein. Ebenso wichtig ist es jedoch, dass du deine Vorbildfunktion weiter ausfüllst. Nicht so sehr, indem du Streit führst, sondern indem du deinem Ideal treu bleibst - und versuchst, Andere für vegetarische Gerichte zu begeistern. Denn eine Wurzel des Problems, wenn nicht DIE Wurzel, ist ja die Menge des verzehrten Fleisches. Und würde diese sich (vielleicht sogar drastisch) reduzieren, wozu du beitragen kannst, wäre ja schon viel gewonnen.

Eine Tatsache ist es, dass wir Menschen nie zu dem geworden wären, was wir sind, hätte unsere Art nie begonnen, Fleisch zu sich zu nehmen. Diese Entwicklung hat uns gleichzeitig auch die Ethik beschert, und man muss ja fairerweise sagen, dass allen Tieren der Gedanke, mit ihrer Beute Mitleid zu haben, fremd wäre. Dieser Vergleich hinkt allerdings wieder aus dem obigen Grund: Weil wir Menschen essen, wann immer und was wir wollen. Eine "Jagd" im eigentlichen Sinne gibt es nicht mehr, die Palette ist absurd, die Mengen dekadent. Wir setzen uns mit dem Dasein, das wir führen, über die Natur hinweg, in der das Tier Glück oder Pech bei der Futtersuche hat, und nicht einkaufen gehen kann. Die Natur, in der nicht Abermillionen Küken und Milchferkel und Kälber sterben müssen, weil niemand etwas dagegen tut. Die alten und schwachen Tiere, die vor allem den Raubtieren zum Opfer fallen, weisen wir von uns, oder es gibt sie nicht. Es ist pervers, von dem gesundheitlichen Risiko noch nicht zu reden. Du hast es Auftragsmorde genannt, was es im Endeffekt auch sind: Denn wenn die Ethik uns schon erlaubt, zu essen um zu leben, wie es unser Naturell ist, so scharf müssten wir uns gegen diesen egoistischen Tötungswahn wenden. Und so wenig es dir glaubhaft erscheint, wann immer du auf taube Ohren stößt: Das schlechte Gewissen nagt ja uns allen. Du kannst dich freuen, es nicht ertragen zu müssen - umso mehr solltest du um ein Minimum an Verständnis bemüht sein. Ganz ohne Hoffnung muss man nicht leben. Möglicherweise ist der Konsum von Fleisch eine Einrichtung, die sich zu überleben beginnt, wie das Patriarchat und die sexuelle Prüderie, und in einem langen, neue Vor- und Nachteile aufwerfenden Prozess, langsam zu ihrem Ende kommen, wer weiß?

Ich schätze an dir, dass du nicht einseitig verteufelst und moralisierst. Die dich ärgern und traurig machen, sind dir trotzdem noch wichtig, genauso nimmst du nicht die Wahrheit für dich in Anspruch. Es ist ehrliches Mitleid, das dich antreibt, und doch ist dies nur eine von vielen offenen Wunden unserer Gesellschaft. Woher kommt das Obst und Gemüse? Lässt sich mit Sicherheit sagen, dass vegetarische und vegane Produkte nicht auch wieder eine Marktnische sind, die zu Ausbeutung und Trug führt? Damit will ich weder dich provozieren, noch eine Schuld von uns (den Fleischkonsumenten) abwälzen. Aber trotzdem ist es so, dass man praktisch nicht vollkommen moralisch leben kann, sofern man nicht zum Asketen auf einem eigenen Bauernhof wird, der mit der Natur geht, sich in Leinen kleidet und kein Auto hat, sein Haus jedem öffnet und dabei nie in Urlaub fährt... und, und. Es ist viel verlangt. Wir alle, die Reichen, sind die blutrünstigen Zecken, die auf den Wunden der Erde sitzen. Jeder Mensch hat in seinem Leben nur die Zeit und Kraft, sich einen oder zwei der widerlichen Saugzähne auszureißen, und bei mehr oder weniger anderen Menschen; jedoch wird man das große Ganze nicht bessern, nicht als Einzelner. Das ist eine Frage von Prozessen, die viele Generationen dauern, und die Welt ist heute zu komplex und zu riesig, um alles Unheil ganz abzuwenden. Auf dem Weg, der noch vor uns liegt, werden einschneidende Ereignisse stattfinden, auch solche Katastrophen, die wir heute voraussehen. Doch es muss trotzdem weitergehen. "Der Weg ist das Ziel!" - heißt für mich als einzelner Mensch, die Verantwortung mit Leidenschaft zu tragen, die ich tragen kann, und Vorbild zu sein. Aber ich bin nur ein Mensch. Ich werde niemals auch nur ein einziges gesellschaftliches Problem im Ansatz beheben können. Ich kann nur versuchen, im Detail zu wirken, kleine Schritte anzuregen und bei mir selbst zu beginnen. So hast du dich dem Kampf gegen die Versklavung der Tiere verschrieben - aber so löblich das ist, weißt du doch, dass dein Ziel tausend Meilen zu hoch gesteckt ist. Was jedoch nicht ausschließt, dass du schon viel bewirkt hast, und noch wirst.

Möchtest du wirklich dein engagiertes Gemüt vollständig eintauschen gegen die banalen Sorgen Anderer? Es geht wohl eher darum, einen Mittelweg zu finden. Für die leidende Kreatur, die Tiere, sind alle Taten unserer Könige und Politiker gegenstandslos, alle Höhenflüge der Nationen nur das ständige Problem der Verfolgung, das losgelöst ist von Herkunft und Hautfarbe des Jägers. Kern deines Problems mag es sein, dass dein Leben als Mensch dich an die Gesellschaft fesselt, die versklavt, foltert und tötet, und in der du trotzdem ein mahlendes Rädchen sein sollst. Tatsächlich aber ist es kein Widerspruch, wenn du es bewusst und geschickt zu tun verstehst: Dein Freund ist vielleicht nicht zu Kompromissen bereit, wenn sie den Wegfall des Fleisches zur Folge haben. Aber vielleicht schon, wenn sie den Schmerz der Frau nach sich ziehen, die er liebt? Wie gesagt, wir reden von Kompromissen. So sind auch deine Kinder, wenn du welche haben möchtest, empfänglich für das Vorbild, das du ihnen in puncto Ernährung bietest; doch dass das uralte Verlangen in ihren wach wird, und seine Befriedigung wichtig für ihre Entwicklung, wirst du schlecht von dir weisen können. Deine Karriere ist dein Sprungbrett, dem System unbequem zu werden, wenn du die Jahre deiner Ausbildung nur gebrauchst, wichtig genug zu werden. Ein Zahnrad, das in die falsche Richtung mahlt, aber ohne dessen Bewegung es nicht geht. Du wirst deinen Kampf nur vernünftig und dann am besten führen können, wenn du zuvor die Dinge bedenkst, die jetzt so unwichtig scheinen. Das Eine befähigt dich zum Anderen, nicht weil du brauchst, sondern weil die Norm der Gesellschaft es verlangt; also, erfülle sie - und werde unbequem. Bleibe unbequem.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul