Problem von Emma - 14 Jahre

Amoklauf

Hallo ich bin Emma und ich war bei dem Amoklauf in Winnenden dabei.
Damals war ich in der 5Klasse an der Unglücksschule. Jetzt bin ich 14 und lebe nicht mehr in Winnenden. Doch meine Wunde ist noch da. Bei jedem kleinsten Geräusch zucke ich zusammen. Ich wurde damals verletzt. Meine Freundin getötet. Die Errinnerungen sind auch Jahre danach noch da.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Emma,

es freut mich sehr, dass du den Mut gefunden hast, dich zu öffnen. Ich muss gestehen: Ein wenig bin ich um Worte verlegen. Das was du erlebt hast, gehört zu den schlimmsten vorstellbaren Dingen. Die schmerzhafte Erinnerung daran werde ich dir nicht nehmen können. Aber vielleicht gelingt es mir, dich mit ein bisschen Zuversicht auszustatten. Zumindest wäre das mein Ziel - ob es gelingt, weiß ich keineswegs.

Unwillkürlich musste ich daran denken, dass es auch schon Zuschriften gab, in denen Leute von dem großen Hass auf ihre Mitschüler berichtet haben, und dass sie mit Amokfantasien spielen. Was natürlich nicht heißt, dass sie sie in die Tat umsetzen würden - oder können. Das eigentlich Tragische bei solch einem Ereignis scheint mir: Es ist nicht zu begreifen. Man bleibt fassungslos zurück. Ein Stück weit lässt sich die Verzweiflung und die Wut des Täters nachvollziehen, wenigstens glaube ich das. Allerdings - entschuldigen kann man diese Tat nicht. Denn an deiner Geschichte wird deutlich, wie die Wunden, die ein Amoklauf reißt, tausendmal tiefer und langlebiger sind als die, die der Täter vielleicht hatte. Schlimmer noch: Viele, viele Leute sind davon betroffen, die den Tag zwar überlebt haben, aber weiterhin von den Bildern verfolgt werden. Und ich möchte offen zu dir sein, es wird dich vermutlich immer ein wenig begleiten. Aber es mag Möglichkeiten geben, mit diesem Schmerz umzugehen. Ich kann keine aufzeigen, das kann wenn überhaupt ein Therapeut. Aber diesen Rat wirst du beileibe nicht zum ersten Mal hören, sicher hast du eine Therapie durchlaufen, oder tust es noch. Ich kann dir nicht mehr sagen, als das, wovon ich überzeugt bin: Es ist nur gerecht, dass du jede Hilfe bekommst, um weiterleben, und das Leben genießen zu können - soweit es geht. Deine Freundin aber ist unschuldig gestorben, sie wird immer ein Teil von dir sein.

Ich muss leider zugeben, dass ich die Bilder nicht von dir nehmen kann. Ich verbeuge mich vor deiner Leistung, dass du mit diesem Schmerz und der Erinnerung lebst, und es bis hierher geschafft hast. Was kann ich dir anbieten? Von einer Reise nach Australien brachte ich folgende Geschichte mit, die ich dort gehört habe. Es ist viel zu lesen, aber es erinnerte mich an dich. Deswegen soll es hier für dich stehen:

Als die Welt jung war, die Eukalypten ihre Rinde noch nicht einmal verloren hatten, und der große Regen noch nicht einmal gegangen und wiedergekehrt – als die Welt jung war, gab es nur wenige Menschen. Im Herzen des Landes machten sich fünf junge Männer auf, um Nahrung für ihre Sippe zu suchen.

Der erste ging nach Norden, wo hinter dem Meer ein unbekanntes Land liegt, und die Regenwälder dampfen.

Der zweite ging nach Westen, wo die Wüste sich ins Unendliche dehnt, und die Hitze so groß ist, dass sie den Lebewesen die Sinne nimmt.

Der dritte ging nach Osten, wo das Land flach und grün ist, die Winter milde und die Sommer gnädig, und gute Früchte gedeihen.

Der vierte ging nach Süden, wo die Berge sind und dann Klippen, die jäh ins Meer abfallen.

Der fünfte Jüngling aber schloss sich dem vierten an.

Diese beiden waren Freunde, und weil sie die ersten der Menschheit waren, die ein solches Band geknüpft hatten, hat es seither auch kein innigeres gegeben. Sie wanderten bis zum Abend, dann rasteten sie. Die Nacht fiel herein mit ihren Geräuschen, aber sie blieben ruhig. Keiner von ihnen hatte erfahren, was Furcht ist und wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Doch das Glück war auf ihrer Seite. Sie hatten gute Jagd und konnten Samen und Früchte schultern, soviel sie nur vermochten. Nach einem Mond der Reise zogen sie heim, denn der große Regen kündigte sich. Die Jagd in den heimischen Gefilden würde ausbleiben, und es tat Not, dass sie und die Anderen Vorrat brachten.

Auf dem Heimweg aber überraschte sie die Dunkelheit. Sie setzten sich nieder, und auch diesmal waren sie ohne Furcht; sie kannten die Stelle. Einer der Jungen war gerade hinüber gedämmert, als er einen Laut hörte, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er schreckte hoch, und meinte etwas Riesiges mit dem Dunkel verschmelzen zu sehen. Doch das Feuer war fast herunter gebrannt, und er wusste es nicht sicher. Der Platz ihm gegenüber aber war leer, und noch immer hallte der Schrei in seinen Ohren. Zum ersten Mal in der Welt hatte ein Mensch den schlimmsten Laut vernommen: Den Schrei des Unschuldigen, der in Todesnot ist, und keine Rettung nahe weiß.

Der Zurückgebliebene sah nach ihren Vorräten, sie waren vollständig. Er würde nicht alles tragen können, aber er würde doch etwas mehr aufnehmen müssen. Den ganzen weiteren Weg sah er angstvoll um sich, denn er fürchtete, das Raubtier sei noch nahe. Doch was ihn vielmehr quälte, war der Gedanke, seinem Gefährten nicht geholfen zu haben; der Gedanke, zu spät gekommen zu sein. Es interessierte ihn noch nicht einmal, dass er keine Waffe hatte, mit der er hätte helfen können. Die Verzweiflung bemächtigte sich seiner, und sein Gang war trostlos und träge.

Als er dem heimatlichen Lagerplatz nahe war, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Am Eingang der Schlucht, wo sie lebten, saß ein Mädchen und weinte. Im Geräusch ihres Weinens meinte er denselben Klageruf zu hören, den er schon kannte, die bittere Klage um unrechtes Leid. Er ging zu ihr, und setzte sich nieder.

„Was bedrückt dich, Schwester?“, fragte er sie.

„Mein Baby, es war noch kein Jahr alt, ist geraubt worden, und es war die Beute wilder Tiere“, sagte sie. „Ich konnte mich retten, doch wie soll ich wieder glücklich werden? Mich plagt der Gedanke der Schuld genauso wie die Frage, warum es an meiner statt sterben musste.“

„So kannst du doch nicht hier sitzen bleiben. Komm mit mir nach Hause, denn dich wenigstens soll mein Arm beschützen, wenn du mir nur einen Teil meiner Last abnimmst.“

Sie trocknete ihre Tränen für einen Moment, um ihn verwundert anzusehen.

„Du bist nicht gleich den dreien, die hier vorbei kamen“, sagte sie. „Drei Jünglinge kamen, und hatten nichts im Sinn, als mit ihrem Fang heimzukehren. Du hilfst mir; ich habe dich lieb darum.“

Als an diesem Abend der Jüngling einschlief, hatte er einen Traum. Die große Mutter, die in Gestalt der Regenbogenschlange im Geheimen das Land durchstreift, stand vor ihm und sah ihn milde an.

„Gewähre mir die Frage, o Mutterfrau“, sagte er in seinem Traum zu ihr. „Wie ist all das zu verstehen? Von dem ungerechten Tod meines Freundes, über den des Säuglings, bis zur Selbstsucht meiner Freunde, kann ich mir keinen Reim darauf machen.“

„Ich will es dir sagen“, erwiderte die Schöpferin. „Die Welt ist jung, und in euch fünfen habe ich einen Anfang bereitet für den Schmerz, den ich der Erde zugedacht habe; ein Schmerz, der durch den ewigen Kampf der Menschen gegen ihn, sich doch immer wieder in Glück wandeln wird. Den ersten deiner Freunde – den, welcher nach Norden ging –, ließ ich in einen großen Waldbrand kommen. Hernach fand er die Geschöpfe der Wälder hingestreckt, tot durch den Rauch und die Flammen; es waren ihrer mehr, als ihr in einem Jahr essen könntet. Er aß davon, und befand, dass er nicht weiter gehen müsse. Er begann, die Toten nicht mehr zu verscharren, und mir nicht mehr zu danken für das Mahl, das wie von selbst in seinen Weg fiel. Was er auf seiner Reise lernte, das war Undank, Gier und kein Mitleid zu haben.

Den zweiten jungen Mann, der nach Westen ging, traf es härter. Er fand eine Höhle, die ihm Schutz vor der Hitze bot, und eine kleine Quelle dabei. Aber Sandstürme tobten, und die Glut war so riesig, dass man nicht auftreten konnte. Wenn er etwas Fleisch bekommen konnte, verschlang er es, als gäbe es kein Morgen. Als ein halber Mond voll war, kam eine Echse halb verhungert zu seinem Mahl gekrochen. Satt war er wohl, aber er schlug sie tot. Als er zurück nach Hause kam, hatte er Eigensucht und Gewalt gelernt.

Den dritten Jüngling, der im Osten eintraf, lehrte ich Anderes. Er fand eine solche Fülle an Vögeln und anderen Tieren, Früchten und Kräutern vor, dass es nur der Jagd eines Tages bedurft hätte, euren Vorrat zu beschaffen. Also gab er sich viele Tage dem süßen Leben hin, und es kamen Stunden, da er fast vergaß, dass er einmal zurück musste. Um allen zu zeigen, wie viel Glück er gehabt hatte, dachte er sich dieses aus: Er jagte die Vögel, die euch als Nahrung nicht nützen, sondern durch ihren Gesang und ihr Federkleid erfreuen. Er jagte viele und aß sie nicht, sondern behängte sich mit ihren Federn, und schuf sich Schmuckstücke aus ihren Krallen. Die Nahrung, die er brachte, hat er auf dem Heimweg ohne viel Mühe gefangen. An seinen Händen ist Blut. Er hat Eitelkeit und Faulheit gelernt, denn ihm galt die größte Bewunderung. Er hat gelernt, sich nicht anstrengen zu müssen. Sein Glaube, erwählt zu sein, macht ihn blind für den Kern der Dinge.

Du aber, mein Sohn“, sprach die Mutterfrau zu dem Träumenden, „du hast eine andere Lehre bekommen. Dein Freund ist von dir gegangen. Aber jedes Weinen, das du hörst, weckt in dir Mitleid, und jedes verdächtige Geräusch eine Ahnung von Unheil. Schätze dich glücklich, denn du hast Schuldbewusstsein und Mitgefühl gelernt; du weißt, was Sorge ist, und welches Glück es heißt, seine Zeit und Kraft mit jemand zu teilen. Dein Freund ist geborgen im Jenseits, doch aus jeder Träne, die zu trocknen dich beglückt, spricht dir sein Auftrag, der für dich ist. Das Mädchen und du, ihr werdet füreinander da sein, wo der eine leidet, wird der Andere ihn trösten; dies war dein Geschick.“

Schlaf gut in dieser Weihnachts-Nacht, auch wenn sie einen bitteren Beigeschmack für dich hat. Ich wünsche dir alles Gute, und dass du trotzdem die Festtage genießen kannst.

Liebe Grüße,

Paul