Problem von Emma - 14 Jahre

Silvester nach 2009/ Amoklauf Winnenden An PaulG

Hallo PaulG, da du mir schon an Weihnachten wegen dem Amoklauf gehilfen hast schreibe ich dir wieder.Ich bin Emma,
Ich habe mich schon vor einer Woche hier wegen dem Amoklauf 2009 in Winnenden gemeldet. Übermorgen ist Silvester. In der Stadt wo ich wohne wird immer sehr viel geknallt. Seit dem Amoklauf den ich erlebt hab reagiere ich sehr empfindlich auf den Knall. Silvester ist für mich nach dem Unglückstag ein Errinerungstag wegen dem Knall. Das schlimmste hab ich noch gar nicht erwähnt mein Geburtstag ist genau am Tag vom Amoklauf.

Wie soll ich Silvester aushalten,nach dem Amoklauf?

Emma

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Emma,

dass Silvester für dich schwierig zu bestehen ist, verstehe ich; es kommt im Grunde darauf an, wie du / ihr vorhabt, es zu feiern. Das Beste für dich wäre eigentlich, morgen auf dem Land zu sein, wo möglichst wenig Lärm zu hören ist. Da diese Möglichkeit nicht besteht, ist es nur eine Empfehlung für die nächsten Jahre. Für dieses Jahr geht es vor allem darum, dem Knallen soweit wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Werdet ihr Silvester als Familie feiern, oder bist du bei Freunden? Deine Familie weiß sicher bescheid, wie es dir damit geht. Wenn du bei einem Freund oder Freundin bist, wäre es sinnvoll, das auch mit ihnen nochmal deutlich zu besprechen. Du musst ja nicht alles preisgeben, falls du es bisher nicht hast. Aber es sollte klar sein, dass du mit dem Lärm nicht gut umgehen kannst, und nicht gerne mittendrin wärst. Es bringt es mit sich, dass du versuchen solltest, dich zeitig zurückzuziehen, und für etwas Ablenkung zu sorgen - beziehungsweise eine angenehmere Geräuschkulisse. Ich könnte mir das so vorstellen: Such einen abgelegeneren, möglichst ruhigen Raum auf, schließe die Fenster und lass die Rollläden herunter. Du kannst den Fernseher oder das Radio anmachen, Musik oder ein Hörbuch hören, die dich entspannen und ablenken. Vielleicht nimmst du deinen Hund oder Katze, oder ein anderes Haustier, mit; sie haben unter dem Knallen ja genauso zu leiden. Natürlich können auch andere Leute bei dir sein. Nur solltest du sie einweihen, und ihr müsstet bereit sein, euch zu unterhalten, oder anders zu beschäftigen - zumindest, nicht rauszugehen und in die Knallerei einzustimmen.

Je nachdem, wo du wohnst, kann es natürlich sein, dass die lauten Geräusche ziemlich lange andauern, und bis in die frühen Morgenstunden immer wieder auftreten. Wenn der schlimmste Lärm überstanden ist, kannst du die Gelegenheit auch nutzen, dich - vorsichtig - ein bisschen dem auszusetzen. Natürlich musst du nicht. Ich meine auch nur, mit jemand, dem du vertraust, ein paar Schritte vor die Tür zu gehen. Wenn ihr einfach dort stehen bleibt, kannst du ein wenig in die Nacht lauschen, und falls es schlimm wird, gleich wieder rein gehen. Du weißt ja, dass es dich immer wieder einholen wird - leider wird noch lange an Silvester geknallt werden. Es wäre gut, wenn du solche Gelegenheiten wahr nehmen könntest, um dich in kleinen Mutproben auf diese Situation einzustimmen. Das stattet dich mit mehr Sicherheit aus. Denn es könnte ja passieren, dass du irgendwann - zum Beispiel im Urlaub - unerwartet ein Feuerwerk miterlebst. Du weißt ja selbst, dass es zwei ganz verschiedene Dinge sind, zu wissen, dass es "nur" Raketen sind; und die Geräusche zu hören, die sie verursachen. Allerdings wird das Erlebnis eines Feuerwerks deutlich schlimmer werden, wenn du bereits vorher in Panik verfällst. Abstellen kannst du das Gefühl natürlich nicht, das verlangt auch niemand. Vielleicht hilft dir der Gedanke: Eigentlich sind die Böller und Raketen ja ziemliche Augenwischerei. Im Endeffekt passiert morgen Nacht auch nicht mehr, als dass sie vorbei geht, und ein neuer Tag anbricht. Viele verschiedene Länder und Kulturen nutzen verschiedene Kalender, und etliche messen dem morgigen Tag überhaupt keine Bedeutung bei. Sich gute Vorsätze machen, kann man das ganze Jahr, jede Woche, jeden Abend; zwar gibt Silvester einen besonderen Ansporn, aber bei vielen wird er nicht lange hinreichen. Ich denke, dass es irgendwie auch eine Art ist, das schlechte Gewissen zu beruhigen: Sich klar werden, was man ändern und verbessern, mit wem man sich wieder verstehen und wovon man ablassen möchte, das sollte auch den Rest des Jahres immer wieder passieren. Raketen braucht es, weil viele Leute nur so aus ihrem Schlaf geweckt werden können, was aber nicht helfen wird - wenn sie gleich wieder darin abtauchen. Die Raketen bedeuten nicht nur Umweltverschmutzung und größten Stress für Tiere und Natur, sondern sie sind auch gefährlich. In etwas größerem Maßstab, und etwas weniger bunt, werden sie in anderen Ländern Menschen töten. Morgen Nacht, und im ganzen kommenden Jahr. Das ist nicht zum Lachen. Und darüber weiß niemand besser bescheid als du. Hinzu kommt, dass längst nicht alle Leute mit den Dingern umgehen können: Nach Neujahr werden wir einmal mehr Fotos von Verletzten sehen; und bei vielen kann man sich denken: Ihr wusstet doch, dass es gefährlich ist. Manchen Unfall kann man nicht vorher sehen, aber viele geschehen auch aus Leichtsinn. Und solange es üblich ist, dass jedermann sich einfach einen Stall voll Raketen kaufen, und die auf der Straße loslassen kann, nur weil zufällig der 31. Dezember ist - solange wird es auch Unfälle geben. Die Raketen sind zwar schön, wenn sie am Himmel zerplatzen. Aber man muss sich fragen, ob da nicht viel Lärm um nichts gemacht wird. Es ist ähnlich wie an Weihnachten: Familien, die sich das Ganze Jahr über befehdet haben, wollen auf einmal funktionieren, als wäre nichts. Keine Frage, dass es nicht klappt. Weil man nie "alles perfekt" machen kann. Und weil ich das, was ich urplötzlich perfekt machen will, weil der 24. Dezember ist, eigentlich schon das ganze Jahr probiert haben sollte. Vielleicht nicht erfolgreich, aber immerhin probiert. Und am 31. gute Vorsätze zu machen, sie mit Alkohol zu begießen und zu knallen, täuscht darüber hinweg, dass es ständig an der Zeit ist für einen guten Vorsatz - dass sie aber nicht besser einzuhalten sind, wenn man nicht bereit ist, Rückschläge einzustecken. Das kann den Rest des Jahres geschehen. Ein gelungenes Weihnachten wäre wohl eines, an dem man guten Gewissens sagen kann: "Heute lief nicht alles gut - aber ich habe mein Bestes getan, dass es gut würde. Schon lange." Und ein gutes Silvester wäre eins, an dem man sagt: "Gute Vorsätze mit Feuerwerk zu feiern, bringt nichts, wenn sie in der Luft verpuffen." Denn es gibt viele Leute, die an verschiedenen Orten mit schlimmen Vorsätzen unterwegs sind. Mit Waffen, die nicht bloß Attrappen sein sollen, und bunte Funken versprühen. Du hast das erlebt, und neben der Angst muss es auch immer Fassungslosigkeit sein, das dich bewegt; ich ziehe den Hut, dass du der Welt ihr Silvester gönnst. Aber eigentlich bist du es, und es gibt viele, denen es wie dir geht - auf die eigentlich Rücksicht genommen werden sollte. Dass wäre ein gelungenes Fest: Wir knallen nicht, und denken an die, die bei Raketen nicht nur an Rauch und Funken denken müssen; denen der Ursprung der Sache vor Augen geführt worden ist, und der ist kein schöner.

Entschuldige bitte, das war jetzt ein sehr langer Absatz, und vielleicht stimmst du mir nicht in allem zu. Ich wünsche dir, dass du Silvester so entspannt und gemütlich wie möglich verbringen kannst, und dass es für dich trotzdem ein gelungener Abend wird. Ich würde mich freuen, wenn du uns schreibst, wie es dir damit geht, und wie es verlaufen ist.

Dass dein Geburtstag an dem Tag des Amoklaufes ist, macht es natürlich fast unmöglich, ihn zu genießen. Wenn du dich gar nicht daran freuen kannst, könntest du dir überlegen, ob du nicht grundsätzlich an einem anderen Tag feiern willst. Den eigentlichen Tag dagegen, kannst du zum Ehrentag deiner Freundin machen - auch, wenn du auf eine Feier nicht verzichten magst. Damit machst du ihr auch ein großes Geschenk und setzt ein bleibendes Zeichen, indem du ihr deinen Geburtstag widmest. Auf jeden Fall wäre es gut, wenn du ihr an diesem Tag eine ruhige Phase einräumen könntest, wo du mit deinen Gedanken an sie allein bist, dich aber auch an die schönen Erlebnisse erinnerst. Das wäre gut, wenn es dir gelingen würde, deine Trauer- wenigstens die schlimmste und größte - zeitlich etwas einzugrenzen. Denke immer daran: Die Tat des Amokläufers verstehen werden wir nie. Was auch immer ihn umgetrieben hat, es kann ihn nicht entschuldigen. Aber auch er ist nicht in der Lage, euch zurückzugeben, was ihr verloren habt; selbst wenn er noch am Leben wäre, könnte er es nicht. Was er wollte - Aufmerksamkeit und Rache, wofür auch immer - hat er bekommen. Aber dahinter steht noch eine tiefere Absicht, die man nicht vergessen darf: Diejenigen, die solche Taten miterleben, sind auch gefangen in ihrer Erinnerung. Das ist es, was diese Tat so viel schlimmer macht als alles, was der Auslöser dafür war. Und wir, die wir leben, haben es in der Hand, dem Trauma nicht den Raum zu geben, den Täter ihm zudenken. Sagen wir: Wir haben nicht über ihn zu urteilen, allein schon, weil wir es nicht verstehen. Aber wir werden uns mitnichten unser Leben durch den Schmerz durchdringen lassen. Er soll seinen Willen nicht bekommen. Diesen Tag zu feiern, Emma, ist auch eine Möglichkeit, eine Kampfansage an das Verbrechen zu machen: Wir lassen uns nicht unterkriegen, und setzen dem Schmerz Freude entgegen.

Vielleicht kann ich mit einem anderen Beispiel noch deutlicher machen, worum es mir geht: Ich kenne noch immer die Plätze, an denen ich zum Beispiel eine frühere Freundin kennen gelernt habe, und mich mit ihr getroffen. Das sind sehr schöne Erinnerungen. Aber dass die Beziehung zuende ging, und das nicht einfach für mich war, durchzieht meine Gedanken mit leisem Schmerz, wann immer ich dort bin. Trotzdem ist es notwendig, immer wieder dorthin zu gehen, und mich den Gedanken auszusetzen. Den schönen und den unangenehmen. Erstens, weil ich sehr dankbar bin, mit diesem Mädchen zusammen gewesen zu sein, und diese Zeit mir viel bedeutet. Jeder Erinnerung auszuweichen, würde bedeuten: Ich will das alles nicht wahrhaben. Aber das will ich sehr wohl! Ich bin stolz, dass sie mich geliebt hat - und dass ich alles gegeben habe, um trotzdem zu scheitern. Das Zweite ist genau das: Es gab Probleme, wie in jeder Beziehung. Und irgendwann waren sie zu groß, um die Liebe zu erhalten. Aber die Orte zu vermeiden, die diese Liebe für mich ausmachen, hieße, diesen unschönen Sachen das Feld zu überlassen. Und irgendwann nicht mehr dort hingehen zu können. So wie du nicht mehr in Winnenden lebst - und vermutlich ist das Letze, was du willst, an deiner früheren Schule sein zu müssen. Das, was du erlebt hast, kann man mit meinem Beispiel natürlich nicht vergleichen. Es ist gut und recht, wenn du dort nicht mehr sein kannst und musst. Da habe ich es noch tausendmal leichter. Aber was ich geschrieben habe, gilt ja immer: Nur keine Todesstreifen (verzeih den Ausdruck!) entstehen lassen! Denn wo ich verletzt worden bin, haben Andere großes Glück empfunden, und umgekehrt; wo ich einmal gewesen bin, und es mir nicht gut ging, wird mir wann anders vielleicht ein gutes Ereignis zustoßen? Der Zufall führt uns an die Orte des Lebens - aber sie können unzählige Dinge bedeuten, für uns und für Andere. Lassen wir das zu, wenn wir es können.

Ich wünsche dir guten Rutsch, und morgen einen schönen und friedlichen Abend. Alles Gute fürs Neue Jahr - halte dich aufrecht, und arbeite für deine Ziele; du hast schon soviel geschafft und bewiesen, dass du stark bist. Hab keine Angst vor Rückschritten; sie gehören dazu. Der Weg ist das Ziel, und Perfektion gibt es nicht. Aber es gibt viel kleines und großes Glück auf dem Weg zur Vollendung - auch wenn er nie am Ende ist.

Liebe Grüße,

Paul