Problem von Tom - 20 Jahre

Ich kriege mein Leben einfach nicht in den Griff

Hallo,

erstmal möchte ich kurz über mich selbst schreiben. Ich bin männlich, 20 Jahre alt und habe vor einiger Zeit ein mittelmäßiges Abitur abgeschlossen. Nach einem Jahr Pause habe ich dann ein Studium angefangen, welches ich jedoch nach einem Semester abgebrochen habe. Seitdem mache ich nichts außer gelegentlich ein bisschen zu arbeiten. Das Schlimmste daran ist, dass ich seit einem Jahr nicht mehr studiere, aber ich traue mich nicht es meinen Eltern mitzuteilen, da sie sich sehr liebevoll um mich kümmern und ich sehr große Angst habe sie zu enttäuschen. Mein momentanes Familienleben ist auf Lügen aufgebaut. Außerdem habe ich Angst, dass mein Problem sich mit der Zeit vergrößert, da mein Lebenslauf in Zukunft Lücken aufweisen wird.

Von Freunden habe ich mich längst isoliert und lebe derzeit in kompletter Einsamkeit (abgesehen von Familie). Meine erste und letzte Freundin hatte ich im Alter von 17 Jahren. Momentan besteht mein Alltag lediglich daraus, dass ich den ganzen Tag vor dem PC hocke und meine Zeit mit Onlinespielen vergeude und manchmal gibt es Tage an denen ich einfach den ganzen Tag im Bett liege. Produktivität ist bei mir fehl am Platz. Ich leide auch sehr unter Selbstentwertung, was dazu führt, dass ich sehr selten rausgehe und was auch in erster Linie dafür verantwortlich war, dass ich nun keine Freunde hab. Mein derzeitiges Leben ist geplagt von Lustlosigkeit, Angst vor Versagen und der Zukunft selbst und Unwissenheit.

Ich habe das Gefühl, dass ich mich momentan in einer Phase befinde, in der ich nicht weiß was ich will. Weder für die Gegenwart noch für die Zukunft. Tief im Inneren möchte ich aktiv dagegen ankämpfen, doch ich habe Angst und keine Ahnung wie ich mein Problem anpacken soll. Es tut mir Leid, wenn sich manchmal Dinge wiederholen und der Zusammenhang nicht passt, da ich immer das geschrieben habe, was mir grad in dem Sinn kam.

Vielen Dank, dass Sie sich der Mühe angenommen haben meinen Text durchzulesen und ich wünsche Ihnen einen erholsamen Start ins neue Jahr.

Liebe Grüße

Tom

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Tom,

ich hoffe, auch du bist gut im neuen Jahr angekommen. Ich danke dir für dein Vertrauen; dass jetzt ein neues Jahr begonnen hat, ist doch sicher ein guter Anlass, um manches wieder gerade zu rücken?

Du hast dein Problem sehr gut analysiert - ich habe dem praktisch nichts hinzuzufügen. Deshalb will ich auch nicht lange fragen, wie es dazu kam, sondern Gedanken aufzeigen, wie es besser werden könnte. Du hast eine große, drängende Frage offen, von der alle weiteren abhängen - die nach deinem Studium. Ich verstehe vollkommen, dass es dir nicht leicht fällt, aber du musst deinen Eltern die Wahrheit sagen. Mit jedem Tag, der vergeht, wird dein schlechtes Gewissen größer, deine Angst kälter und deine Scham wächst im selben Maß. Es schafft dir Ehre, wie du dich über deine Eltern äußerst, das nimmt mich sehr für dich ein. Trotzdem musst du in den sauren Apfel beißen, und zwar eher heute als morgen. Wie du es angehst, ist dir überlassen - ich weiß nicht, ob ihr noch gelegentlich Zeit miteinander verbringt, und Rituale habt, die sich dafür nutzen lassen? Ansonsten wäre der nächste Abend, an dem deine beiden Eltern da sind, die Gelegenheit, eine Beichte abzulegen. Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du sie zum Essen einlädst oder vorher ins Kino schickst - in welcher Verfassung sie die Nachricht am besten aufnehmen, kannst du besser beurteilen als ich. Wichtig ist, dass es bald geschieht. Tom, du bist gerade mal 20 Jahre alt, in etwa so alt wie ich - das ist doch noch kein Alter! Man muss es sich immer wieder sagen. Es gibt viele, die bei ihrem Studium schnell das Handtuch werfen, das ist nicht der Weltuntergang. Die Lücke im Lebenslauf wird zwar immer größer, je länger du wartest - aber der größte Fehler, den du jetzt machen könntest, wäre, dich nochmal überstürzt auf was einzulassen. Um dann zu merken, dass es wieder nicht das Richtige ist.

Was im Moment an Leerlauf im Curriculum entsteht, kannst du vornehm mit "Gelegenheitsjobs" oder als "Selbstfindungsphase" angeben, was liegt daran? Und auch wenn du angibst, ein Semester probeweise studiert zu haben, ist das noch immer kein Beinbruch. Es kommt öfter vor, als du denkst, und kann mit der richtigen Umschreibung sogar ein Eyecatcher im Lebenslauf werden. Wer kann das schon wissen? Du wirst deine Eltern stolzer machen, wenn du eingestehst, dass es nichts war, und du aus Furcht vor ihrer Enttäuschung geschwiegen hast. Wieviele 20-jährige gibt es, die ihren Eltern gedankenlos "auf der Tasche liegen" und nichts dabei finden, dass sie gerade ein, zwei Jährchen "am Chillen sind"? Deine Eltern dagegen haben einen Sohn, der öffentlich zusagt, dass sie sich liebevoll um ihn kümmern. Wenn es Früchte gibt, die eine Erziehung tragen kann, sind es solche - und kein mit Ritalin und Crashkursen teuer erkaufter Uniabschluss. Fass dir ein Herz, und nutze die Stunde, um deine Eltern mit ins Boot zu holen. Es gibt tausend Wege, dich zu beschäftigen, dir eine Orientierung zu geben. Warum solltest du nicht ein Jahr oder zwei später den Weg beschreiten, den zum Beispiel ich mit einem FSJ mache? Oder einfach schauen, dass du das eine oder andere Praktikum in der Tasche hast? Du solltest signalisieren, dass du zum Stillstand gekommen bist, das nicht gut findest, und gerne etwa tun möchtest, um dir wieder Lebensinhalt zu geben. Und nicht zuletzt deine Chancen zu verbessern. Diese Sache duldet keinen Aufschub, aber wenn du so ehrlich bist, wie du es hier warst, hast du bestimmt nichts zu befürchten.

Im Augenblick bist du dabei, in eine Art von Depression zu rutschen, die davon lebt, dass du dich deiner Verstimmung hingibst. Das ist verzeihlich, doch der erste Schritt zur Besserung besteht darin, wieder tätig zu werden. Es ist weder gesagt, dass du gleich eine Menge Leute kennen lernen musst, oder eine Freundin finden. Das sind Sachen, die müssen sich ergeben. Aber siehst du nicht eine Möglichkeit, ein wenig mehr unter Menschen zu kommen? Dafür würde es schon reichen, wenn du dich einfach mal durch die Stadt treiben lässt, und die Eindrücke musterst, die dir begegnen. Wo findet sich etwas, wo du mal hingehen könntest? Oder warum nicht ins Hallenbad gehen, öfter mal ein paar Einkäufe tätigen. Wenn man Menschen hat, die für einen sorgen, macht man hin und wieder die Erfahrung, dass das scheinbar Alltäglichste schwer fällt - wie ein Kind, das seine ersten Schritte tut. Das noch unbeholfen und ängstlich ist. Aber das sollte man sich erlauben. Denn hinter jedem Menschen, der forsch und mit ausgefahrenen Ellbogen auftritt, steckt eine Geschichte, die man nicht ahnt. Hinter den Stirnen deiner Mitschüler, die scheinbar erfolgreich und glücklich sind, kann man auch nur eine lange Kette von Erlebnissen vermuten, die keineswegs alle positiv sein müssen. Mach dich nicht schlechter, als du bist. Du hast ein verzeihbares Tief, das an dir nagt, aber du hast es erkannt, und dich geöffnet. Ich traue dir absolut zu, dass du die Konsequenz daraus ziehst, und dich selbst wieder nach oben. Dabei wirst du auch entdecken, was die Zukunft für dich bereithält: Ob Ausbildung oder Studium - wichtig ist doch, dass du diesmal ganz dahinter stehst! Aber erlaube dir auch, manchmal unwissend zu sein. Das Abitur, gleich wie gut oder mäßig der Schnitt war, in der Tasche zu haben, und damit theoretisch durch die Uni galoppieren zu können - das alles macht noch keinen fertigen Lebenskünstler. Im Gegenteil. Das Ende der Schulzeit erlebe ich selbst als Umbruch, eher noch Wegbruch von etwas Vertrautem. Solche Lücken und Umbrüche entstehen immer wieder. Aber man sollte sie nicht unterschätzen - sie haben auch ihren Wert.

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

(Hermann Hesse, "Stufen")

Ich wünsche dir den Mut und das Selbstvertrauen, das du brauchst, und eine höhere Meinung von dir selbst. Das neue Jahr hat begonnen. Mit ihm kann auch für dich etwas ganz Neues beginnen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul