Problem von Stefan - 22 Jahre

Immer noch Probleme mit Selbstvertrauen, und auch im Job; @Paul

Lieber Paul, Liebes Kuka-Team,

bereits vor 1,5 Jahren habe ich hier schon einmal geschrieben und Paul hat mir damals geantwortet (http://mein-kummerkasten.de/308324/Arbeitslos-und-ein-totaler-Nichtskoenner.html)
Zu allererst möchte ich mich, wenn ich damit auch schon sehr spät dran bin, bei dir, Paul, ganz ganz herzlich für deine Antwort bedanken! Du hast mir damals so ausführlich geantwortet und hast dir bei der Antwort soviel Mühe gegeben, dass ich direkt ein schlechtes Gewissen habe dass ich jetzt hier wieder schreibe… Denn leider ist im Großen und Ganzen immer noch alles beim alten, ich glaube manchmal in einigen Punkten ein hoffnungsloser Fall zu sein…. Ich würde mich freuen wenn mir Paul wieder antworten würde

Ich fange mal bei der Arbeitsuche an, wie damals geschrieben war ich Arbeitslos, 3 Jahre lang, ich habe gesucht, Praktikas gemacht, usw. Nach diesen 3 Jahren Arbeitslosigkeit habe ich Anfang Oktober nun eine Stelle angefangen, zuerst habe ich mich nat. gefreut und, naja, was soll ich sagen, ich bin nicht glücklich damit, und zwar absolut nicht, ich habe keine Lust mehr dort länger hinzugehen… aber ich muss, sonst bin ich wieder arbeitslos… Es ist einfach der falsche Job für mich, ein Job den ich eigentlich nie machen wollte aber durch bekannte hat es sich so ergeben dass ich dort anfangen konnte... Bereits nach zwei Wochen habe ich festgestellt dass ich für diesen Job einfach zu blöd bin, ich tu mir so schwer, ich mache so viele Fehler, und dass wurde mir nun auch schon mehrmals gesagt dass dies nicht passt und dass passt nicht usw… Ich habe inzwischen immer wieder Alpträume davon, wache Nachts teilweise zitternd und schwitzend auf und ich habe einfach keine Lust mehr, jeden Tag bin ich fix und fertig, morgens klingelt der Wecker, ich quäle mich aus dem Bett, fahre eine halbe Stunde zur Arbeit um mir wieder anhören zu können was ich alles falsch gemacht habe, dabei muss ich mich dann schwer beherrschen nicht in Tränen auszubrechen, dann fahre ich wieder heim, lege mich auf die Couch um ein paar Stunden zu schlafen, wenn ich wieder wach bin und mich irgendwie dazu aufraffen kann mache ich ein paar andere Sachen um dann wieder fix und fertig ins Bett zu fallen und das ganze wieder von vorne beginnen zu lassen… und ich habe inzwischen richtig Angst dort wieder hin zu fahren weil ich eh weiß dass ich wieder alles falsch mache… ich bin bereits Sonntag den ganzen Tag total fertig weil ich weiß ich muss da morgen wieder hin… ich brauche einen anderen Job, die Frage ist nur welchen, man kann sagen was man will aber es gibt ihn nicht, den Job den ich auch kann, es gibt ihn einfach nicht… ich habe sogar Berufseignungstests gemacht bei denen nicht wirklich was eindeutiges raus kam, ich wusste immer was ich machen will, aber wie damals geschrieben darf ich das nicht (wegen einer Lähmung in einem Arm, mit der ich ansonsten keine Probleme habe) und seitdem bin ich der Meinung es gibt keinen Job mehr den ich hinkriege… ich denke inzwischen dass ich fürs Arbeiten einfach nicht geschaffen bin und irgendwie hat sich in diesen 1,5 Jahren seit dem ich euch geschrieben habe auch meine Einstellung dazu total geändert und ich frage mich oft, ist man eigentlich nur zum Arbeiten auf dieser Welt?! Klar, es geht dabei ums Geld und das wiederum brauche ich, aber über den ersten Lohn konnte ich mich auch nicht wirklich freuen, irgendwie war es mir ziemlich egal plötzlich einen 4-stelligen Betrag überwiesen bekommen zu haben… Aber ich habe vor allem im letzten Jahr auch angefangen es irgendwie zu genießen, jeden Tag machen was ich will, jeden Tag aufstehen wann ich will… und wenn ich jetzt wieder mal in die Zukunft denke… wie lange man Arbeiten soll oder muss… Gestern und heute habe ich mich krank schreiben lassen, ich bin allerdings wirklich nicht besonders fit… aber ich denke dass das eher psychisch ist, deswegen hat der Arzt auch keinerlei Ursachen für meine Beschwerden gefunden…

Leider ist es mir auch nicht gelungen mich nicht mehr so zu vergraben, ich habe zwar immer wieder versucht es zu ändern, aber letzten Endes ist es dann doch wieder beim alten geblieben… Ich war zwar immer wieder draußen, aber dann da wo ich möglichst weiß dass ich niemandem begegne, denn meistens wenn ich raus gehe dann wegen meinem Hobby und da weiß ich inzwischen wo es ruhig ist und wenig Menschen vorbeikommen unter Menschen fühle ich mich irgendwie nicht wohl, vor allem unter jüngeren Menschen, das macht mir irgendwie Angst, bei älteren Menschen denke ich mir weniger… Oft frage ich mich warum ich so eine Angst vor, vor allem jungen Menschen habe, aber das hängt wohl mit der Schulzeit zusammen, denke ich jedenfalls… Ansonsten kann es sein dass ich zwischendurch mal mit dem einzigsten Freund (dafür aber ein guter Freund, sind schon seit 16 Jahren befreundet und sind seit dem unzertrennlich, hatten auch noch nie Streit oder so) den ich habe spazieren gehe, aber das ist auch eher die Ausnahme, alleine weil er schon nicht besonders oft Zeit hat was zu machen, wir sehen uns so alle 1-2 Wochen mal.. meistens sitze ich also zuhause, seit dem ich arbeite wieder umso mehr, seit dem bin ich außer auf dem Weg zum Auto und zurück kein einziges mal mehr draußen gewesen, außer vllt. Noch um meine Katze zu suchen, seitdem habe ich erst recht wieder keinen Schwung mehr, bin eigentlich immer Müde (gut das war ich vorher auch schon) und niedergeschlagen, aber seit dem habe ich irgendwie zu nichts mehr wirklich Lust. Manchmal wenn ich zuhause bin, allein irgendwo dann würde ich am liebsten oft einfach nur mal richtig weinen, aber irgendwie geht dass dann wieder nicht…, in der Arbeit wenn mir wieder gesagt wird was ich alles falsch mache da muss ich mich dann wieder zusammenreissen dass ich nicht anfange... Das einzigste was ich momentan wirklich gerne mache ist mit dem o. g. Freund zu vereisen, ein paar Tage in meine Lieblingsstadt am anderen Ende von Deutschland oder so, wenn wir vereisen fühle ich mich irgendwie immer so, ja frei irgendwie, würde ich es bezeichnen.

Nach außen hin denke ich kann ich es gut verstecken, ich kann lachen und auch lustig sein, wobei das in letzter Zeit meiner Meinung nach auch weniger wurde, trotzdem aber geht es mir in Wirklichkeit einfach nicht so wirklich gut. Ich kann auch nicht über Probleme reden oder so (ich sage generell nur dann etwas wenn es unbedingt sein muss, ansonsten hört man von mir nicht viel), sondern ich fresse sowas wortwörtlich in mich rein, ich weiß dass das nicht gut ist, aber ich tus irgendwie hald trotzdem, das wahrscheinlich beste Beispiel dafür ist gewesen, was mich dieses Jahr zusätzlich ziemlich runter gezogen hat, bei meinem Papa wurde dieses Jahr Krebs festgestellt, bösartig, er hatte eine sehr schwere OP die er aber soweit gut überstanden hat, er ist jetzt viel fitter als lange Zeit vor der OP, trotzdem hat er zwei Metastasen auf der Leber und bekommt Chemo, die er soweit aber auch gut verträgt, trotzdem macht mir das ganze sehr Angst, es ist nun ein halbes Jahr etwa her dass er im Krankenhaus war, als ich das erfahren hatte dass es ein bösartiger Krebs ist, bin ich erstmal -alleine- in mein Zimmer gegangen und musste mich setzen, ich war mir in diesem Augenblick nicht sicher wie lange mich meine Füße noch tragen würden… in dem Moment kam mir alles plötzlich so schwach vor… bis heute aber habe ich mit niemandem darüber geredet sondern alle Sorgen, Ängste usw. in mich rein gefressen…

Eines möchte ich noch sagen, auch wenn sich das nach dem geschriebenen Text wahrscheinlich widersprüchlich anhört, aber wie du damals geschrieben hast dass du das Gefühl hast dass ich mich nicht aufgegeben habe, damit hattest du jedenfalls recht, ich habe und werde mich nicht aufgeben, ich möchte etwas ändern, aber es gelingt mir einfach nicht, ich würde arbeiten gehen bzw. ich tu es eh, aber ich hab keine Freude daran, ich weiß einfach nicht für was ich geeignet bin, es gibt einfach nichts… was das betrifft bin ich vllt. Doch ein hoffnungsloser Fall, Ich würde unter Menschen gehen, aber ich traue mich nicht, ich fühle mich da einfach nicht wohl, ich habe Angst und weiß eigentlich nicht vor was, aber ich mag es schon nicht wenn mich jemand ansieht oder so, vor allem aber mag ich es auch nicht wenn jemand erst in meine Richtung sieht und danach lacht oder sowas, da denke ich immer gleich der/die lachen oder reden jetzt über mich.
Mir fehlt generell einfach auch der Schwung, zu nichts kann ich mich aufraffen, zu nichts habe ich wirklich Lust, ich möchte dass sich das ändert und generell auch mal wieder etwas Glücklicher sein, aber wie geschrieben ist das nicht so einfach weil ständig irgendwas anderes ist dass mich (wieder) runter zieht. Ich würde auch mit dem oben genannten Freund was machen, ich habe ihn in letzter Zeit oft gefragt ob wir was machen, einfach mal raus, Spazieren gehen oder sowas, leider muss er sehr viel lernen und hat daher wie geschrieben wenn überhaupt nur am Wochenende mal ein paar Stunden Zeit, und so bin ich dann hald auch wieder nicht vor die Haustüre gekommen, wir sehen uns aber normalerweise spätestens jede zweite Woche, ich hab es dann wieder aufgegeben zu fragen ob wir nach der Schule oder Arbeit noch was machen. Er ist jetzt aber bald mit der Ausbildung fertig und vllt. Wird es dann wieder anders.

Ich weiß du hast letztes mal schon sehr viel und ausführlich geschrieben und ich lese mir das auch heute immer wieder durch, aber ich wollte trotzdem einfach nochmal schreiben, vllt. geht es mir auch nur darum mir das mal von der Seele zu schreiben, mit jemandem darüber reden kriege ich ja auch nicht hin.

Tut mir Leid dass es nun wieder so lang geworden ist, ich hoffe es ist einigermaßen verständlich geschrieben.

An dieser Stelle möchte ich euch hier nochmal ein ganz großes Lob aussprechen, was ihr hier macht, und das auch noch kostenlos und in eurer Freizeit, finde ich ganz große Klasse! Wie oben geschrieben würde ich mir wünschen dass mir Paul antwortet (nichts gegen den Rest vom Kummerkasten-Team, ihr leistet hier alle eine Super Arbeit!!!)

Vielen lieben Dank schon im Voraus für deine Mühe!

Liebe Grüße
Stefan

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Stefan,

vielen lieben Dank für deine lobenden Worte und dein Vertrauen an mich. Ich bin sehr erfreut, dass ich dir einen Denkanstoß geben konnte - auch wenn das Problem nach wie vor aktuell ist. Du solltest nie vergessen: Was du hier vor dir hast, ist eine Lebensaufgabe. Es gibt kein "Damals war es so, aber jetzt ist es besser." Vielmehr wird das Leben dich immer wieder in Situationen bringen, in denen du nach dem Sinn fragst, in denen dir das Materielle irgendwie gleichgültig wird, du dich abgestoßen fühlst von der Mühle, in der wir alle stecken. Jetzt ist eine davon, es wird nicht die letzte bleiben.

Das ist auch erstmal nicht verkehrt, denn was geschähe, würden wir gar nichts mehr hinterfragen? Im besseren Fall führen die Fragen, die man sich dann so stellt, zur besseren Kenntnis der eigenen Zielen und Wünsche, und dazu, dass man erkennt, was einem gut tut. Bei dir sehe ich einige Anzeichen dafür, dass - auch wenn du dich gerade nicht so gut fühlst - schon viel Produktives "heraus geschält" worden ist: Du hast dir wichtige Fragen gestellt, auch wenn sie banal scheinen; und du hast gemerkt, wie gut es dir tut, mit deinem Freund zusammen zu sein und Abstand zu bekommen. Was du erlebst, ist also kein Zeichen dafür, dass du nicht vom Fleck gekommen wärst, dir also Vorwürfe machen müsstest. Im Gegenteil: Du hast ein anderes Bewusstsein von dir selbst erworben und ein dringendes Bedürfnis entwickelt, vieles zu klären. Vor anderthalb Jahren warst du sehr in dich gekehrt, traurig, ohne Hoffnung. Heute bist du möglicherweise immer noch nicht zufrieden, fühlst dich eingeengt, unter Druck, ziellos, abgenabelt von der Welt. Aber was dich von dem unterscheidet, der du damals warst, ist dein Drang nach Veränderung und deine Beharrung auf deinem Wert, deine Suche nach Alternativen und das Ausloten, was für dich ein Hilfsmittel, ein Ausgleich sein könnte: Zum Beispiel Reisen - das zu wissen, ist schon mal toll. Denn es dauert seine Zeit, bis Erkenntnisse, die ganz banal erscheinen, sich hinter dem blinden Schleier vor unseren Augen hervor geschoben haben, der uns nur allzu oft die Sicht vernebelt. Wenn es dir gelungen ist, auch nur einen kleinen Schritt im Kampf gegen deine Ängste und quälenden Fragen vorwärts zu kommen, bedeutet das schon eine große Leistung - auf die du stolz sein darfst.

Ich möchte zunächst einmal auf die Frage der Arbeit eingehen. Noch besteht meine Arbeitserfahrung lediglich in diversen Nebenjobs und meinem FSJ - auf der anderen Seite würde ich schon sagen: Man muss sich klar machen, dass ein Job auch manchmal einfach dazu da ist, Geld zu verdienen. Für dich war es die - verständlicherweise - schlimmste Erfahrung, nicht in deinem Traumberuf arbeiten zu können. Inzwischen hast du jedoch immerhin gemerkt, dass du arbeiten kannst, dass bei dir eben nicht Hopfen und Malz verloren ist. Wenn man mit dir gerade so unzufrieden ist, wie deine Worte es vermuten lassen, wäre es bestimmt kein Fehler, sich nach einer Alternative umzusehen. Den Job, der dir einerseits wenigstens eine gewisse Befriedigung schafft, und andererseits von dir gut bewältigt werden kann, den muss es geben - anders kann es doch gar nicht sein. In Anbetracht deiner Einschränkung möchte ich dir auch einmal raten, dich über eine besondere Anleitung oder Betreuung, die dir vielleicht zustehen, Nachteilsausgleiche und was es dessen mehr gibt, zu informieren. Dass es für dich immer ein Manko darstellt, das ist kein Zustand, den du auf Dauer ertragen musst. Ob dir deine Arbeit Spaß macht, hängt sicherlich auch immer damit zusammen, was drum herum stattfindet: Dein Verhältnis zu deinen Kollegen und deinem Chef sowieso, aber eben auch, wie dein sonstiges Leben sich gestaltet. Oder besser gesagt, wie du es gestaltest. Deine Gedanken über die Unternehmungen mit deinem Freund zeigen, dass du spürst, wie gut es dir tut, mal etwas Anderes zu sehen. Ich verstehe aber, dass es nicht leicht ist, Freunde zu finden oder ein Hobby, eine Beschäftigung aufzutun, wenn man das gerade unbedingt will. Daher wieder mein Vorschlag: Versuche, klein anzufangen. Zum Beispiel kannst du dir für das kommende Wochenende etwas vornehmen, was du unbedingt gemacht haben möchtest. Ob das ein Einkauf in der Stadt ist, eine Wanderung, ein Telefonat mit einer Person, die dir wichtig ist, ein Kinobesuch - es wird dir etwas einfallen. Wichtig ist, dass du es tust. Du wirst nämlich spätestens auf dem Nachhauseweg merken, wie schön es war (wenn auch vielleicht anstrengend), und den Wunsch nach Wiederholung verspüren.

Die Kunst des Anfangens entscheidet darüber, wie man zu etwas steht. Du wirst deine Ängste nicht überwinden können, wenn du dich ihnen nicht stellst. Zum Beispiel ist da die Frage in deinem Kopf: Was reden die jetzt? Lachen die etwa über mich? Sehe ich komisch aus? Die Antwort, die du dir insgeheim geben solltest, ist immer dieselbe: Vielleicht reden sie ja über mich, vielleicht lachen sie über mich, ja. Aber was heißt das schon? Sie kennen mich nicht. Und wenn allen Ernstes mein bloßer Anblick für jemanden schon so komisch ist, gut, dann bedeutet es auch keinen Verlust, ihn oder sie nicht näher kennen zu lernen.
Du wirst niemals mit jedem gut auskommen, wirst niemals überall auf spontane Sympathie stoßen. Das muss auch gar nicht sein. Du bist du, und du kannst nur glücklich sein, wenn du zu deinem Sein stehst. Mit all deinen Eigenschaften. Auch mit den Klamotten, die jemand "irgendwie komisch" findet, mit diesem Gesichtsausdruck, den du kriegst, wenn du dein Lieblingslied hörst, mit dieser Geste oder Haltung, die dich auszeichnen, und für manche vielleicht irritierend sein können. Oder sagen wir besser: Für manche sind. Denn das ist bei jedem so. Überleg dir mal, wie es dir geht, wenn du durch die Straßen läufst. Ruft nicht jede Person, ob alt oder jung, Mann oder Frau, bei dir spontane Gedanken und Bilder hervor? Denkst du nicht auch ständig "Oh, ist die aber süß!", oder "Huch, der ist schon eklig", oder "Wie kann man nur so rumlaufen!", oder "Ich würde mir nie so ein Piercing stechen lassen!", oder "Kann die nicht mal auf ihr Kind achten?" Wenn wir ehrlich sind, reicht eine Sekunde des Sehens, Hörens, Riechens, um eine Flut von Interpretationen auszulösen. Die überhaupt nicht stimmen müssen. Mal angenommen, eine Person, über die du sofort das und das gedacht hast (es mag nicht das Beste gewesen sein), spricht dich ganz freundlich an und stellt dir eine Frage. Würdest du dich dann hohnlächelnd wegdrehen und abwinken? Sicher nicht, oder? Stattdessen würdest du höflich antworten, dich vielleicht auf ein Gespräch einlassen, und dreißig Sekunden später ist dein erstes Urteil schon vergessen. Allein schon, weil man einen Menschen zwar sehen kann, aber noch nicht seine Stimme gehört hat. Weil man einen Satz irgendwo aufschnappen kann, aber noch lange nicht die Geschichte dahinter kennt. So geht das weiter. Diese unwillkürlichen Gedanken, Assoziationen, das Mitleid, das Lächeln, das Ekeln, das Einfach-nicht-weggucken können - kurz, Stefan, das gibt es. So wie du es tust, auch über dich. Aber es muss erstens nichts Schlechtes heißen. Und zweitens ist es einfach menschlich, ist wichtig, um mit der Welt "verdrahtet" zu bleiben. Wenn man es sich zum Ziel setzt, nicht mehr zum Anlass für innerliche Lacher, innerliches Kopfschütteln, innerliches Stöhnen und Seufzen und Augenrollen und Kichern zu dienen, dann kann man nur verlieren. Denn es ändert sich nicht.

Nehmen wir mal an, einer sieht dich in der Straßenbahn, und denkt bei sich: "Was hat der denn für eine Jacke an? Und diese Haare! Und dieser Leberfleck..." tja, das passiert dir. Auch wenn du es nicht mitkriegst. Aber weißt du, ob die junge Frau, die daneben sitzt, sich nicht denkt: "Hey, der ist bestimmt voll nett, und eigentlich total zum Anbeißen!" ? Lach nicht - es passiert! So ist die Welt! Und weil du es nicht mitbekommst, musst du dich auch nicht ängstigen, dass du zu aufdringlich wärst. Es ist ein Teil des Menschlichen, zu taktieren, zu philosophieren, abzuwägen. zu provozieren. Aus keinem anderen Grund tragen wir schließlich ausgefallene Kleider, Schmuck und Handtaschen, schminken uns und streichen Gel in die Haare, ziehen einen Roman aus der Tasche, den wir eigentlich total öde finden. Das ist alles Teil der Selbstinszenierung - und diese ist zum Teil einfach dadurch vorgezeichnet, was dir zusagt, womit du dich wohlfühlst. Gefallen wird es nicht jedem. Aber man merkt es dir an, dass du es bist, und nicht eine Rolle, die dir nicht ansteht. Und dann findet es auch mehr Zuspruch, offenen und geheimen.

Mir ist es jedoch auch wichtig, zu sagen: Wenn dir größere Menschenmassen (vorerst) nicht so liegen, vielleicht niemals liegen werden, dann ist auch das legitim. Es steht dir frei, Plätze aufzusuchen, wo nicht so viele Leute sind. Wichtiger ist es, dass du es tust - und versuchst, etwas Energie freizusetzen. Über seine Aktivitäten definiert man sich schließlich. Ich mag zum Beispiel Lesen, Kochen, Laufen und Kinogehen - und andere nennen andere Dinge. Solange dein Ablauf im Wesentlichen dadurch bestimmt wird, dass du zur Arbeit gehst und erschöpft heimkehrst, aber nirgends deine Wut, deinen Schmerz hinstecken kannst, wird es irgendwann vielleicht wieder schlimmer. Vieles davon findet auf psychischer Ebene statt, manches mag auch Gewohnheit sein, eine verstehbare Liebe zur eigenen Freiheit, die sowas wie Arbeit, Studium, Ausbildung natürlich einschränken. Auch dies ist eines der Dinge, die du sehr richtig bemerkt hast! Es ist auch klar, dass es dir umso mehr zuwider ist, je weniger Gefallen du an deinem Job hast. Umso dringender ist es, dass du versuchst, deinen Aktionsradius zu erweitern. Es gibt viele Möglichkeiten, sich abzulenken - ob Sport, Musik, exzessives Angucken von Serien, in Läden stöbern, oder einfach in die Natur zu gehen... alles das sind Sachen, die zunächst mal gering und lächerlich erscheinen mögen. Sie sind es jedoch nicht, denn sie sagen etwas über uns aus. Wo man das Gefühl hat, alle tun etwas, man selbst kommt nicht vom Fleck, ist es wichtig, nicht nur aus "Defiziten" zu bestehen, sondern sich wenigstens bewusst zu sein, was einen selbst ausmacht: Hier stehe ich, das kann mir keiner nehmen. Dafür braucht man nicht unbedingt eine Fülle an Kontakten, viel wichtiger ist, dass man etwas hat, woran man Spaß hat und das einen Ausgleich bildet.

Durch die Erkrankung deines Vaters wird das nur noch mehr zu einem Anliegen. Ich hoffe, dass es ihm gerade den Umständen entsprechend gut geht, und sich sein Zustand bald und dauerhaft bessert. Wenn ein so enges Familienmitglied wie der eigene Vater krank ist, schwer krank, dann stürzen doch tausend Ängste und Zweifel auf einen los, spürt man Verantwortung, wo man sie bisher nicht wahrgenommen hat - was wäre, wenn er nicht mehr da wäre? Oder sage ich was Falsches? Du bist wirklich in keiner einfachen Lage, und du darfst es dir absolut verzeihen, wenn dir das an die Substanz geht. Noch stolzer darf dich da machen, dass du bereits eine gute Entwicklung vollzogen hast und dich deinen Problemen stellst. Manchmal ist es auch so, dass die Schockwirkung äußerer Ereignisse nötig ist, um einen zu sich selbst zu führen. Nur so merkt man, dass sich etwas ändern sollte. Das empfindest auch du so, und ich versichere dir, dass dein Vater Grund hat, stolz auf dich zu sein: Nicht jeder wird ohne Blessuren durch die Kindheit und Jugend gelotst, ohne Verluste, ohne Mobbing, ohne Niedergeschlagenheit und Schmerzen. Das muss nicht an den Eltern liegen, sondern es ist so, weil das Leben halt nicht fair kämpft. Doch man kann das Leben überlisten, indem man erkennt, dass es allen so geht, indem man erlittenen Schmerz nicht mit Wut beantwortet, sich seinen Ängsten nicht ausliefert. Angst und Zweifel sind Größen, die zum Leben dazugehören. Jeder hat sie - versuche daher besser nicht, sie immer gleich abzuwehren. Angst will dir etwas über dich selbst sagen, nämlich: Hier ist etwas nicht in Ordnung. Wenn die Angst dich anfällt, dann sage nicht: Hilfe, was soll ich tun?! Sondern sage zu ihr: Okay, da ist sie... was ist der Grund? Und dann: Was kann ich dagegen unternehmen?

Gib dir ruhig noch etwas Zeit, um all zu überdenken, und wie viel oder wenig es dir helfen kann. Die bedeutendste Frage in deinem Leben ist sicherlich die nach dem Job, und ich kann mir gut denken, dass du dich bedeutend besser fühlen würdest, wenn du auf einer anderen Arbeitsstelle "settled" und ganz zufrieden wärst. Und die Unabhängigkeit, die man dadurch gewinnt, ist natürlich auch nicht zu unterschätzen. Andererseits sind auch die übrigen Baustellen wichtig, denn sie anzugehen, verändert dein Auftreten, und wird dein Selbstbewusstsein stärken, deinen Gesichtskreis weiten. Ich möchte noch einmal betonen: Gib dir Zeit. Und mit Zeit meine ich nicht eine Woche, nicht einen Monat, sondern die nächsten sechzig oder siebzig Jahre. Oder wie lange dein Teil unserer Geschichte noch weitergeht. Wenn du das Leben als Weg ansiehst, der immer wandelbar ist, als kurvige Straße und nicht als Laufbahn, auf der man irgendwann an ein bestimmtes Ziel kommen soll, dann wird vieles leichter. Viele Menschen fallen mitten in ihrem Leben plötzlich in ein Loch, weil die Menschen um sie herum nicht danach fragen, was einem gut tut. Weil der Partner einen betrügt, ein Kind verunglückt, ein Freund sich von einem entfernt, man den Job verliert... all das sind niederschmetternde Erfahrungen, die man niemandem wünscht. Aber auch wenn es nicht so drastisch kommt, wirft einen manches unerwartet aus der Bahn. Wer sich bewusst ist, dass alles sich wandelt, sich immer wieder neu erfinden kann, dem wird es - nicht immer, aber oft - leichter fallen. Denn ein Satz wie "Man macht seinen Abschluss, man arbeitet ab fünfundzwanzig, kriegt ab dreißig Kinder, und das war's im Großen und Ganzen" bildet nur eine einzelne Option, eine Überlegung, die vielleicht früher mal Standard war, aber uns heute nicht mehr bedrücken muss. Wer kreativ ist und nicht auf den Kopf gefallen, sich bemüht und versucht, an sich zu arbeiten - so wie du, Stefan - der wird auf die eine oder andere Weise sein Glück finden. Da bin ich sicher. Und ich hoffe, dass du dich mir bald anschließen kannst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul