Problem von Eli - 14 Jahre

Angst vor sich selbst //2 (Vollständig)

Ich habe zwar immernoch keine Antwort auf mein Problem bekommen, aber ich hoffe wirklich das ich das noch kriege.
Vorgestern ist mir mal wieder was "typisches" für mich passiert.
Wir hatten eine Aufsichtsstunde und meine Freundin wollte mit mir reden währrend ich am Zeichnen war, ich hab sie wegen meinen Kopfhörern nicht gehört und sie hat um meine Aufmerksamkeit zu kriegen versucht den Bleistift aus meiner Hand zu nehmen. Naja ich weiß gar nicht wieso ich dann so aggressiv geworden bin aber ich hab ihr fast das Auge damit ausgestochen, zum Glück hatte sie eine Brille, sonst hätte es ein schlimmes Ende gehabt. Sie muss sich jetzt zwar eine neue Brille kaufen, da ich ihre kaputt gemacht habe. Wir haben den Vorfall geklärt nachdem ich mich unendlich mal entschuldigt habe bei ihr, aber das ich meiner FREUNDIN fast das Auge augestochen habe ist krank!
Und gestern hatten wir ganz normal Sport, ich habe eine meiner alten Freundinnen gefragt ob wir zusammen eine Choreografie machen sie hat ja gesagt, auch wenn wir nicht mehr so viel zu tun haben miteinander. In der Umkleide hab ich sie dann auch mit den zwei anderen mit dennen ich früher meine Zeit verbracht habe gehört.
Als wir noch viel zusammengemacht haben, habe ich immer zwei Scheren in meinen Ärmeln versteckt, weil ich ohne die immer sofort ein komisches Gefühl hatte und ich mich uneohl fühlte. Auf jeden fall hab ich die halt Lachen gehört und da hat eine gemacht "Wow du machst ja mit der Mörderin zusammen" und das hat mich echt geflasht. Ich glaube auch nicht das sie mich zum ersten mal so bezeichnen, aber wenn schon andere mich als Mörderin ansehen dann finde ich wirds noch schlimmer. Ich brauche dringend Hilfe ich hoffe ihr könnt mir einen Rat geben

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Eli,

Ich sende dir eine Antwort auf deine zweite Anfrage, weil du dich ja auf die erste beziehst und sie ergänzt. Wir haben beide bekommen, und ich versuche, beide in meiner Antwort abzudecken.

Wir kennen das alle: Bloß nicht an Schokokekse denken! Alles, nur das nicht! Na - was passiert?

Die meisten Leute würden an die Kekse gedacht haben. Ich habe mir Manches zu deinen Gedanken und Fantasien überlegt, das ich dir gleich noch erzählen werde. Vorher möchte ich darauf eingehen, ob es sich dabei um eine psychische Erkrankung handelt, oder nicht.

Denke einmal allgemein über dein Leben nach: Wie läuft es für dich in der Schule? Wie kommst du mit deinen Eltern klar? Im Verein, mit Freunden? Viele Menschen - nicht alle - die mit psychischen Problemen kämpfen, haben in ihrem Leben große, offene "Baustellen", wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Einsamkeit. Andere haben zumindest einschneidende Erfahrungen gemacht, wie etwa eine gescheiterte Beziehung, die sie noch beschäftigt. Und dann gibt es wieder Menschen, die von einer Depression, von Zwangsgedanken überwältigt werden, ohne dass sie selbst sagen können, was da eigentlich los ist. Zählst du dich dazu? Ob ja oder nein, vergiss nicht: Die Person, die in ihrem Leben keine Probleme hat, die Person, die nicht manchmal einfach alles durch die Gegend werfen will - diese Person gibt es nicht. Sie muss, wie man so schön sagt, "noch gebacken werden". Daher sollte man die Frage, ob jemand psychisch erkrankt ist - auch dann, wenn dieser jemand man selbst ist - sehr behutsam angehen. Denn dass es nur "Normale" auf der einen Seite gibt, und "Psychos" auf der anderen, das ist ein Vorurteil, das wir besser rasch aus unseren Köpfen bannen. Menschen, die Termine bei einem Therapeuten vereinbaren, oder sich sogar in einer psychiatrischen Klinik behandeln lassen, sind zunächst mal schlicht und ergreifend: Menschen mit Problemen. Und zwar nicht mit Problemen, die sie bekommen haben, weil ihr Gehirn irgendwie "falsch programmiert" ist. Sondern die mit Problemen kämpfen, die theoretisch jeder bekommen kann. Jeder Mensch kann heftigen Liebeskummer bekommen, und dann in Depressionen verfallen. Jeder kann soviel Stress haben, dass er vor lauter Mühsal die Freude am Essen verliert und abmagert. Und im Grunde kann jeder auch Zwangsgedanken entwickeln - verschiedenster Art. Deswegen ist man nicht etwa "gestört", sondern das ist etwas Menschliches - das man unter Umständen wirklich anpacken und beheben muss, ja. Aber nichts, das einen zum Psycho stempelt. Daher ist mein erster Appell an dich: Beginne lieber gar nicht erst, dich selber dafür zu verurteilen, dass es dir im Moment so geht. Damit wirst du dir nicht gerecht.

Ich könnte mir vorstellen, dass dein Gefühl über diese Gedanken gespalten ist. Du selbst hast das angesprochen: Einerseits stößt es dich ab, weil der Inhalt der Gedanken - zugegeben - heftig ist. Andererseits fasziniert es dich auch, und vielleicht hat auch die Vorstellung etwas für sich, du könntest eine ernstliche Problematik haben: Dann hätte das (in deinem Empfinden) immerhin den Vorteil, dass du klar wüsstest, was los ist. Dieses Empfinden ist nachvollziehbar, und doch - ich glaube nicht, dass du ein ernstes psychisches Problem hast. Das schreibe ich, um dich zu beruhigen, nicht, um deine Frage an uns abzuwerten. Ich werde dir erklären, warum meiner Meinung nach die Dinge etwas anders liegen.

Du hast offenbar eine Faszination am... nun ja, am Bösen, an der Brutalität, an Verbrechen, an ausgeklügelten, durchdachten, die ebenso heftig wie auf schreckliche Weise genial begangen sind. Es erschreckt dich, diese Fantasien zu haben, doch sie müssen nicht unbedingt eine Gefahr bedeuten. Zu einem großen Teil hängt das von deiner Bewertung ab: Wenn du dir selbst vorstellst, du wärst quasi auf dem Weg, eine Serienmörderin zu werden, dann wird es dir vielleicht irgendwann schwer fallen, zu erkennen, dass du eigentlich niemand nach dem Leben trachtest. Dass es noch ein Leben jenseits deiner Fantasien gibt, das so schlecht gar nicht läuft. Dann könnte es durchaus passieren, dass du dir selbst verloren gehst, und zwischen Wirklichkeit und Fantasie schwer trennen kannst. Aus diesem Grund solltest du auch darauf Acht geben, dich stets zu erinnern: Es sind deine Gedanken, deine Fantasien - aber sie sind eben nur das. Ich glaube kaum, dass du tatsächlich Pläne hegst, demnächst eine Freundin auf bestialische Weise zu töten, oder? Es ist wichtig, dass du nie vergisst, dass es deine Gedankenwelten sind. Niemand von uns ist je im Krieg gewesen oder im Gefängnis, oder hat eine Amputation durchgeführt. Solange dies alles Bilder aus Filmen und Büchern sind, die uns auf unheimliche Art und Weise faszinieren, solange scheint es uns genau so - faszinierend, aber nicht unbedingt schrecklich. Es gibt nicht wenige Leute, die große Leidenschaft an Horrorfilmen haben, und viel Zeit darauf verwenden, sich über die Entwicklung grausiger Serien auszutauschen, sich gefährliche Wendungen für Rollenspiele ausdenken. Solange man dabei nicht aus den Augen verliert, dass es auch in Wahrheit Mord und Gewalt gibt, und dass damit nicht zu spaßen ist, solange ist daran nichts auszusetzen.

Wie gesagt: Das Verbrechen fasziniert uns, es gruselt uns. Wir begeben uns in unserer Fantasie in Rollen, die uns in Wahrheit gar nicht anstünden. Es ist eine Sache, sich auszumalen, wie der "perfekte Mord" aussehen könnte. Es ist etwas völlig Anderes, erst einmal die Wut und Kaltblütigkeit zu entwickeln, ihn auch tatsächlich zu begehen. Ihn zu verschleiern, mit den Schuldgefühlen klar zu kommen. Und schließlich: Auf der Flucht zu sein, sich vor der Polizei zu verstecken, nirgends sicher, von allen gehasst und gefürchtet. Wenn so etwas nur in der Vorstellung existiert, ist es in gewissem Maße reizvoll - aber in echt würde das kaum jemand durchstehen. In Thrillern und Horrorfilmen tischt man uns Geschichten auf, in denen durchtriebene Gestalten scheußliche Verbrechen begehen, falsche Fährten legen, die Polizei über Wochen, Monate, Jahre an der Nase herumführen, und das Gefühl der Macht und Angst voll auskosten. Die Wirklichkeit, und das wissen wir, sieht völlig anders aus. Die meisten Morde werden ohne größere Planung begangen, ereignen sich entweder, weil jemand schon lange an Gewalt gewöhnt ist, weil man ihn bis aufs Blut gereizt, drangsaliert und gequält hat - oder eben im Krieg. Das seelenlose Monster, das jeden Schritt genau plant, jeden seiner Verfolger voraussieht, und am Ende seinen Prozess ganz und gar ungerührt verfolgt, diese Art Mensch ist die absolute Ausnahme. Wenn wir lesen, wie ein Mann seine gesamte Familie tötet, und jahrelang kriegt es keiner mit, oder ein Vater sperrt seine Tochter viele Jahre im Keller ein, und niemand fällt es auf - diese Fälle sind, gemessen an der Gesamtzahl der Verbrechen, extrem selten. Und auch da ist es meist nicht die Folge einer akribischen Planung, sondern zu einem großen Teil auch Glück, dass es gelingt.

Die meisten Mörder werden sofort nach ihrer Tat von furchtbaren Schuldgefühlen übermannt. Sie eilen nach Hause, stellen sich unter die heiße Dusche, und versuchen verzweifelt, den "Schmutz" abzuwaschen - der in Wahrheit gar nicht da ist. Sie raffen ihre Kleider zusammen, stopfen sie in die Mülltonne. Sie brechen weinend zusammen. Sie irren durch die Straßen, und wenn sie jemand anspricht, zucken sie zusammen. Jeder, der ihnen begegnet, könnte auf der Suche nach ihnen sein. Irgendwann halten sie es nicht mehr aus, und stellen sich. Oder sie springen ins Auto, fahren irgendwohin, brechen dann erschöpft zusammen - und wenn sie bald darauf die Polizei findet, sind sie eher erleichtert. Bei der Vernehmung stellt sich dann aber nicht heraus, dass hier einer sitzt, der seinem Vater seit Jahren nach dem Leben trachtet, und nur den richtigen Augenblick abgewartet hat. Sondern er zeigt die Narben, die daher rühren, dass sein Vater ihn jahrelang geprügelt hat. Der Mann, der seine Freundin erstochen hat, liebt sie in dem Moment, da ihn eine Anzeige wegen Mordes an ihr erwartet, vielleicht kaum weniger. Aber am Vorabend, als sie starb, wollte er ihr einen Heiratsantrag machen - stattdessen sagte sie ihm, dass sie ihn nicht mehr liebt. Solche Fälle sind die weitaus häufigeren, und sie werden auch bestraft - aber du siehst, es gibt nun einmal mehr als eiskaltes, widerliches Kalkül.

Die Art Morde, die ich dir beschrieben habe, hast du mit dem Wort "geschmacklos" belegt. Hier ist, wie ich finde, ein Punkt, an dem du dir selbst eine Grenze setzen solltest. Deine Faszination ist erstmal nicht schlimm. Aber wenn du eine Bewertung von Verbrechen nach "Kreativität" und "Spannung" einführst, und dafür Begriffe gebrauchst, die den gewaltigen Emotionen - und auch den Geschichten - die dahinter stehen, nicht gerecht werden: Dann kann es geschehen, dass du die Realität aus dem Blick verlierst. Es ist eben auch wichtig, sich klar zu machen, dass Geschichten Geschichten sind, Fantasien Fantasien - dass beides aber nicht da wäre, gäbe es nicht auch die Wirklichkeit. Diese ist in keinem Fall unaufregend, geschmacklos, billig - sondern zutiefst aufwühlend. Um dir das ins Gedächtnis zu rufen, könntest du zum Beispiel auch einmal unseren Kummerkasten durchforsten: Du wirst hier zahlreiche Geschichten finden, bei denen sich mir - und auch meinen Teamkollegen - erst einmal alles verkrampft hat. Und so gibt es auch weitere Foren im Internet, in denen mit teilweise schonungsloser Offenheit von erlebten Verbrechen berichtet wird. Wenn du mal die eine oder andere dieser Erzählungen kennst, wird es dir möglicherweise leichter fallen, zu erinnern, dass auch ein Mord, der "nur" aus Eifersucht geschieht, sehr komplexe, hoch emotionale Hintergründe hat. Und dass auch der perfekteste Plan letztlich nichts nützt, wenn der Zufall dir in die Quere kommt.

Jeder von uns hat von der Natur einen gewissen Hang zur Gewalt mitbekommen, der bei Menschen, die mehr und größeren Gefahren als wir ausgesetzt sind, vielleicht auch eher zum Tragen kommt. Aber jeder hat letztlich seine Grenze, allein schon, um überleben zu können. Das ist ja der erste Sinn des Lebens überhaupt: Es fortsetzen zu wollen. Darum fasziniert uns die Gewalt auch, zieht uns an, und dann schrecken wir wieder zurück. Manche haben die Beschäftigung mit dem Tod und dem Verbrechen zu einer Art Hobby erhoben, haben auch Gefallen daran, sich Szenarien auszumalen, sich mit den verschiedenen Arten und Möglichkeiten des Sterbens zu beschäftigen. Das ist an und für sich nichts Schlechtes. Denn kein Thema liegt dem Leben näher als der Tod. Im Übrigen sollte man sich nicht darüber täuschen, dass gar nicht so weit weg Menschen auf grauenvolle Weise sterben, jeden Tag - das ist auch ein Teil der Welt. Nur weil wir gerade nicht damit konfrontiert sind, heißt das nicht, dass die Beschäftigung damit verwerflich ist. Ganz im Gegenteil: Du bist vielleicht näher an der Realität und den Menschen verbundener, Eli, als manch einer deiner Mitschüler, dessen erstes Interesse Partys und Flirten gilt. Denn klar ist: Das "Böse" lauert dort draußen. Weiß ich, wie oft ich schon durch bloßen Zufall meinem Tod entgangen bin? Nein. Und ich will es auch nicht wissen. Deshalb ist es durchaus nichts Falsches, sich auch kreativ mit diesen Themen auseinanderzusetzen - wenn es mit dem gebotenen Ernst geschieht.

Hier komme ich zum Anfang zurück: Ich vemute, ein gut Teil deiner Angst vor dir selbst nährt sich auch daraus, dass du denkst, diese Bilder nicht in dir haben zu dürfen. Wenn du aber den Drang verspürst, dich damit zu beschäftigen, weil es dich interessiert, darfst du das tun. Du könntest aber versuchen, dir zeitliche Limits zu setzen - und du solltest bemüht sein, dich bei alldem nicht aus dem Leben zurückzuziehen. Triff dich mit Freundinnen, lass dir auch einmal das erzählen, was sie beschäftigt, und versuche - auch wenn es dir schwerfällt - dazu Stellung zu nehmen. Die Auseinandersetzung mit anderen Themen, mit solchen, die mehr dem Leben verpflichtet sind, ist sehr wichtig, um nicht zu sehr in der Fantasie verloren zu gehen. Wenn das für dich einen Ausgleich bedeutet, dir hilft, Aggressionen abzubauen, oder Streit zu verarbeiten, hat es durchaus etwas sehr Positives. Doch versuche immer, dir genau klar zu werden: Verfalle ich jetzt in diesen Gedanken, weil es mir hilft, ruhiger zu werden, weil ich gerade voll auf hundertachtzig bin? Oder werde ich danach nur noch wütender? Im zweiten Fall ist es besser, du suchst nach einem anderen Ausgleich. Zeichnen, Schreiben, Joggen oder Kampfsport - aber meide dann besser die Beschäftigung mit diesen Themen. Denn was geeignet ist, dich wütender zu machen, wenn du es schon bist, kann dir auf Dauer auch gesundheitlich nicht gut tun, das ist in der Tat wahr.

Falls du das nicht schon tust, kannst du beginnen, deine Beschäftigung mit diesen Themen, dem Tod, dem Verbrechen, dem Nachdenken über Rollen von Tätern, die du nicht wirklich bist - dass du all das wirklich akribisch betreibst. Anfängst, Serien zu sehen, in denen sorgsam geplante Taten geschehen, und dich zum Beispiel im Internet darüber austauschst, wie sie sich wohl entwickeln. Oder du besorgst dir Bücher über die Straftaten und Prozesse vergangener Zeiten, über populäre Straftäter und ihre Geschichten. Oder du beginnst, deine Vorstellungen zu Papier zu bringen. Wer weiß, womöglich habe ich hier eine zukünftige Richterin vor mir? Eine geniale Pathologin? Eine Erfolgsautorin von Thrillern? All das kann ich mir sehr gut vorstellen für dich. Denk darüber nach, ob du dem Ganzen nicht etwas Produktives abgewinnen kannst, das dir gleichzeitig hilft, deine Fantasien abzuarbeiten. Nicht zuletzt sind sie immer auch Ausdruck der unterbewussten Emotionen, die Stimme dessen, was die Luxusprobleme dieser Gesellschaft, das sich-nicht-verstanden-fühlen, die Scheinheiligkeit vieler Leute, und eben auch die Bilder von Krieg und Terror und so weiter mit uns machen. Einige bewältigen das, indem sie sich auf Demos abreagieren. Andere finden Trost darin, die Wochenenden auf langen Wanderungen zu verbringen. Einige engagieren sich sozial. Aber jeder hat seine eigene Art, auch die ganze Wut, die man oft gar nicht merkt, aus sich rauszulassen, sich einmal dem Gefühl hinzugeben, mächtig zu sein und die Menschen aufzurütteln: Der Koch spürt es, wenn er das Gemüse klein säbelt, der Tennisspieler, wenn er mal absichtlich einen Korb voll Bälle ins Aus haut, um Druck abzulassen. Und bei dir tritt es eben in Gestalt dieser Gedanken zutage, und es scheint seine Bezugspunkte im realen Leben zu haben. Dein Bedürfnis nach Sicherheit, nach Aufmerksamkeit, nach Einfluss - alles ganz menschliche Sehnsüchte, die bisweilen eben auch die merken, denen sie gelten. Oder ist es nicht so?

Wenn solche Dinge wie das passieren, was du mit deiner Freundin erlebt hast: Ich bin nicht ganz sicher, wie du es gemeint hast. Aus dem Affekt heraus, weil du erschrocken bist, vielleicht auch einfach genervt warst - da kann es zu solchen Missgeschicken kommen. Ich glaube nicht, dass du wutentbrannt aufgesprungen bist, sie gepackt hast, und ihr mit voller Gewalt den Bleistift in die Augenhöhle stoßen wolltest, oder? Es war wahrscheinlich mehr eine Handlung, die unüberlegt gewesen sein mag, aber durch den Schrecken, und auch allgemein schlechte Stimmung, Wut und Frust, die in dir waren, schon erklärbar ist. Hier mag es sein, dass deine Bewertung die entscheidende Rolle gespielt hat: Weil du dieses Bild von dir hast, ordnest du dieses Ereignis rasch in eine Kategorie ein, in die es höchstwahrscheinlich gar nicht gehört. Ich weiß nicht, ob du dich deshalb eher dazu hast hinreißen lassen - glaube es jedoch nicht. Der Vorfall zeigt, dass es leicht geschehen kann, dass Dinge, die eigentlich menschlich sind, die aus blöden Zufällen, aus Unachtsamkeit, aus Missverständnissen, oder einfach aus überreizten Nerven geboren werden, schnell weit drastischer aufgefasst werden - wenn man glaubt, sie seien inakzeptabel. Und natürlich sollte sich so etwas nicht wiederholen. Aber damit ist keinesfalls gesagt, dass dies einen Hinweis auf eine potenzielle Gefahr ist, die von dir ausgeht.

Trotzdem kann und sollte natürlich auch die Reaktion deiner Mitschülerinnen ein Warnsignal an dich sein. Es ist sicher nicht falsch, wenn du jetzt probierst, solche schon etwas seltsamen Dinge bleiben zu lassen, wie etwa das mit den Scheren. Denn dass solche Ausbrüche wie der im Kunstunterricht auf deine Mitschüler verstörend wirken können, ist begreiflich, da sie ja nicht die ganze Tiefe deines Fühlens und Erlebens kennen. Hier kam wohl ein unschöner Zufall mit einem Gefühlsausbruch zusammen, der trotz allem hoffentlich der letzte war. Denn wie es auch ist, es hätte ernstlich etwas passieren können. Und deinen Stand in der Klasse verbessert es auch nicht gerade, wie du gesehen hast. Wie ernst es ihnen damit war, weiß ich zwar nicht. Ein Wort wie "Mörderin" scheint mir hier doch sehr hart, ohne wirkliche Einsicht, dass "Mord" etwas komplett Anderes ist. Dennoch wäre es ratsam, dass du jetzt Acht gibst und versuchst, solchen Erlebnissen wie in der Umkleide nicht den Weg zu ebnen, indem du zu Mitteln greifst wie dem mit den Scheren - was für Außenstehende kaum durchschaubar ist.

Am Ende schreibe ich daher trotzdem: Wenn es dich beruhigen würde, einmal einen Psychologen dazu befragt zu haben, dann ist das auch gut. Im Allgemeinen halte ich es aber für wichtiger, dir immer ins Gedächtnis zu rufen, dass du in einer komplizierten und emotionsreichen Lebensphase stehst, in der nicht nur die Gedanken und Gefühle manchmal Achterbahn fahren, sondern in der es auch irgendein "Ventil" braucht, mit dem Erlebten umzugehen. Wenn du jemand bist, die sich sehr mit dem Tod beschäftigt, wenn diese Vorstellungen dir helfen können, deine Emotionen "runter zu kochen", und vielleicht einfach, weil du eine Faszination an Kriminalität, Verbrechen und seinem Vorgehen hast - ohne deshalb selbst solche Pläne zu hegen - dann ist das schon in Ordnung.

Ich glaube auf jeden Fall, dass du auf deine Angst ernst nehmen und nicht zögern solltest, dich auch Anderen zu öffnen, denen du vertraust, wenn dir all das zu groß wird. Es mag ja sein, dass ich dir überhaupt nicht helfen konnte. Dann betrachte meine Meinung nicht als die letztgültige, sondern bleibe an der Sache dran. Grundsätzlich zeugt es nur von Reife und Selbstreflexion, dass du dich damit beschäftigst, zu dir selbst ehrlich über deine Gefühle bist, und dich fragst, was daran ungut sein könnte. Bewahre dir diese Fähigkeit, sie ist seltener, als man denkt. Vor allem aber: Verabschiede dich von dem Schwarz-Weiß-Raster, das in "Normalos" und "Psychos" unterteilt, in "gefährlich" und "ungefährlich", in "alles easy" und "Bloß aufgepasst!" Denn jeder von uns hat ein bisschen von alldem in sich, und je nach dem, wie es ihm gerade geht, kommt es zum Ausbruch. Normalerweise. Gott sei Dank.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul