Problem von Lea - 17 Jahre

Übergewicht und Einsamkeit

Hallo,
ich bin ziemlich übergewichtig und ich habe das Gefühl, dass mir das mein komplettes Selbstbewusstsein nimmt. Ich hasse meinen Körper, aber ich schaffe nicht, etwas daran zu ändern, weil Essen das einzige ist, was mich wirklich glücklich macht. Es ist nicht so, dass ich aus Frust esse, es ist mehr so, dass ich mich ohne Essen einsam, als würde etwas fehlen, und nach einiger Zeit aufgewühlt fühle und das dauerhaft. Nach negativen Vorfällen habe ich allerdings nicht mehr oder weniger Lust, zu essen, als sonst auch.
Wenn ich etwas esse, was mir gut schmeckt, bringt mir der Genuss Freude und das lässt mich diese Einsamkeit vergessen. Ich esse dann so lange, bis nichts mehr da ist und/oder mir schlecht ist.
Ich habe versucht, abzunehmen und meine Mutter und meine kleine Schwester unterstützten mich dabei, aber mein großer Bruder hat jedesmal Kommentare losgelassen, wie lächerlich das sei und dass ich das eh nicht durchhalten würde und wenn er sich was zu Essen gemacht hat (er isst fast nur Fastfood und ist trotzdem untergewichtig), hat er mich jedes mal gefragt, ob ich auch etwas will, da es ja egal sei, ob ich jetzt oder in zwei Tagen aufgebe. So habe ich dann jedes Mal aufgehört.
Generell macht sich mein Bruder lustig darüber, dass ich übergewichtig bin, nennt mich in der Schule vor anderen Leuten "Specki" und begründet ständig irgendwas damit, dass ich fett bin. Wenn ich ihm sage, dass er das lassen soll, meint er, ich soll auch über mich selbst lachen können und als ich einmal angefangen habe, zu weinen, weil es mich halt verletzt hat, meinte er, ich sei eine Heuchlerin, weil ich sonst immer so tu, als fände ich das auch witzig. Geändert hat sich nichts, obwohl er ja gemerkt haben muss, dass mich das fertig macht.
Ich wohne alleine mit ihm zusammen, sodass ich nicht verheimlichen könnte, wenn ich meine Ernährung umstellen würde.Mit Freunden kann ich nicht darüber reden. Ich kann generell nicht mit anderen über meine Gefühle sprechen, was daran liegen könnte, dass mein Bruder sich schon als ich klein war immer über meine Gefühle lustig gemacht hat. Ich habe Angst, dass andere Menschen mich oder meine Probleme lächerlich finden könnten, obwohl ich ja eigentlich weiß, dass diese Angst bescheuert ist. Irgendwie hasse ich meinen Bruder dafür, aber im Großen und Ganzen kommen wir total gut miteinander aus und ich weiß auch, dass ich im Endeffekt selbst für meine Probleme verantwortlich bin und nicht das Recht habe, jemand anders die Schuld dafür zu geben, dass ich zu feige bin, mir Hilfe zu suchen.
Ich habe das Gefühl, dass mich keiner wirklich so mag, wie ich bin, weil ich dick bin. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Leute nur nichts mit mir zu tun haben, weil sie mich unsympathisch finden oder ich zu introvertiert bin. Daher habe ich auch nicht wirklich Freunde. Die Leute, die mit mir abhängen wollen, haben meist selbst keine Freunde oder sind nicht mit mir auf einer Wellenlänge. Und die Leute, mit denen ich mich sehr gut verstehe, kenne ich nur aus dem Internet, sodass sie nicht wissen, wie ich aussehe. Trauen, mich mit ihnen zu treffen, könnte ich mich niemals. Deshalb fühle ich mich total einsam.
Ich weiß einfach nicht, wie ich meiner Situation entfliehen soll. Ich kann ja nicht abstellen, dass die Worte meines Bruders mich verletzen. Und wenn ich nicht bald was ändere, wird das alles nur noch schlimmer.
LG, Lea

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Lea,

du hast gemerkt: Du steckst in einer Mühle. Damit sie gestoppt wird, muss man sie an irgendeiner Stelle blockieren, abstellen. Und welche sollte das idealerweise sein?

Am liebsten wäre mir persönlich, dein Bruder würde seine - Entschuldigung - saudummen, entwürdigenden Bemerkungen über dich von jetzt an sein lassen. Und sich am besten noch bei dir entschuldigen, weil man seiner Schwester so etwas nicht sagt. Ihr in den Rücken fällt, obwohl man weiß, wie sehr sie unter ihrem Gewicht leidet. Und selbst wenn du noch so dick wärst: Es ist keine Rechtfertigung für das Verhalten deines Bruders. Da wir aber davon ausgehen müssen, dass er nicht damit aufhört - was lässt sich stattdessen tun?

Zwar kannst du nicht abstellen, dass es dich verletzt. Das solltest du auch auf keinen Fall tun, selbst wenn du es könntest. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem dein Bruder sich wünscht, dass du ihm den Rücken stärkt. Dann wirst du ihm klar machen können, wie sich sowas anfühlt. Nein, du wirst ihn dann nicht verraten. Du wirst es besser machen als er. Aber du wirst nicht versäumen, ihm spätestens dann nochmal ordentlich die Meinung zu sagen, versprichst du mir das? Es mag sein, dass ihr euch im Allgemeinen gut versteht. Würdest du das auch so empfinden, wenn du nicht der Meinung wärst, dass es letztendlich "deine Schuld ist"? Was nicht stimmt. Klar, euer Verhältnis beschränkt sich nicht auf die Sache mit dem Gewicht. Aber ein gutes Licht wirft es nicht auf ihn. Wirklich nicht.

Im Moment ist ein großes Problem, dass du deinem Bruder - und Anderen - Angriffsfläche bietest. Er bekommt mit, wie du vergebliche Abnehmversuche startest, und sieht gleichzeitig, dass du das Essen brauchst. Er ist sich sicher, dass es dir nicht gelingen wird. Deswegen fühlt er sich überlegen. Weil deine Misserfolge ihm scheinbar Recht geben. Wenn du ihm aber ein Schnippchen schlagen möchtest, kannst du genau das zum Anlass nehmen, dich zu fragen, ob deine bisherige Strategie wirklich so alternativlos ist.

Essen hast du beschrieben als etwas, das dich wenigstens für den Moment glücklich macht, dir etwas aus deiner Einsamkeit hilft. Ich möchte mal was deutlich sagen: Genau so ist Essen gedacht. Wir könnten uns auch nur von rohen Karotten, Körnern und Wasser ernähren - aber das wäre frustrierend. Unsere Vorfahren mussten es so machen. Heute haben wir die Kochkunst, die viele, immer neue und aufregende Genüsse erschließt. In deiner gegenwärtigen Situation sehe ich es so, dass du mit deinen Diätversuchen vermutlich immer nur neuen Frust ernten wirst. Denn wenn man es reichlich gewohnt ist, kann man nicht von heute auf morgen umschalten. Und, die alte Leier: Wenn man die Diät beendet, ist es oft in kürzester Zeit wieder auf den Rippen. So tickt der Körper nun mal. Wenn du dich radikal umstellen willst, dir wieder und wieder sagst "Ab morgen, ganz bestimmt!" - das bringt nichts. Man muss kleine Schritte machen. Und vor allem solltest du nicht verleugnen, dass Essen dir etwas bedeutet, dass es ein Lebensgefühl ist. Das finde ich toll, und daran ist überhaupt nichts Falsches. Auch wenn du vielleicht etwas zu kräftig zulangst.

Ich kenne dein Gewicht nicht und will es auch überhaupt nicht wissen. Man ist nur so hässlich, wie man sich fühlt - und du bekommst in der Tat viele Gründe geliefert, dir selbst nicht zu gefallen. Vor allem das, was dir an Häme entgegen schlägt. Dass du dick bist, muss an sich aber noch nicht Hässlichkeit bedeuten. Woher weißt du denn, ob es nicht doch Menschen gibt, die dich attraktiv finden? Und gibt es nicht noch mehr Dinge, die zu einem schönen Äußeren gehören, als nur eine schmale Taille? Ich verstehe, dass es dich belastet. Aber ich glaube nicht, dass es dich glücklich machen kann, immer einem Ideal hinterher zu jagen, das Andere festgelegt haben - und das an der Realität vorbei geht. Ich gebe dir einen radikalen Rat, Lea: Versuch nicht mehr, abzunehmen.

Wenn du etwas für deinen Körper und deine Gesundheit tun willst, kannst du versuchen, bewusster zu essen. Also, es gründlich und aufwändig zuzubereiten, dir beim Essen Zeit zu lassen, in der Küche zu experimentieren. Das kann dir helfen, wenn du schon viel isst, wenigstens kreativ und gesund zu essen. Die Menge ist nicht das Problem - meiner Meinung nach nicht. Das Schlimme finde ich, dass du das, was dir doch so gut gefällt (und das zu Recht), gleichzeitig so sehr verabscheust. Warum? Warum nicht dafür leben, ein Genussmensch zu sein? Sinnvoll wäre es sicherlich, wenn du probierst Süßigkeiten und Fastfood vorerst wegfallen zu lassen. Also, sagen wir - ein, zwei Wochen ohne? Dann führe es langsam wieder ein, als Ritual. Abends ein bisschen Schokolade. Oder einen Kuchen am Wochenende. Oder zur Belohnung nach einer guten Klausur. Zelebriere das Essen, aber unterwirf dich nicht Zwängen, wenn du isst, Zwängen, die dir den Spaß daran verleiden. Niemand hat das Recht, dir dein Leben sauer zu machen, nur weil sie zufällig etwas schlanker gebaut sind.

Wichtig ist auch: Begib dich unter Menschen. Damit meine ich: Setz dich ihren Blicken aus. Versuche, dir die Scham abzutrainieren für etwas, für das man sich nicht schämen muss. Du bist du, und niemand hat das hässlich oder lächerlich zu finden. Ich sage nicht, dass es nicht gut wäre, etwas abzunehmen, wenn du wirklich starkes Übergewicht hast. Dafür ist aber nicht ausschlaggebend, ob du dich Hungerkuren unterziehst, sondern ob du Lebensfreude hast, ausgewogen isst und dich bewegst. Sport wäre also eine naheliegendere Wahl. Du musst auch hier nicht beginnen, gleich ein Programm erster Härte zu entwerfen - ein Anfang wäre gemacht, wenn du jeden Tag einen längeren Spaziergang machst, oder öfter mal schwimmen gehst. Im Augenblick wird dir das wahrscheinlich unangenehm sein. Doch genau darum geht es: Hier ist nicht mehr die Lea, die verzweifelt versucht, etwas zu werden, was kein Maßstab ist. Sondern hier ist die Lea, die ist wie sie ist, ihr Leben genießt und das mit Vernunft - es sich aber auch nicht nehmen lässt. Kannst du dir in einem Lokal ein Essen schmecken lassen, vor anderen Leuten? Wahrscheinlich nicht. Ich wünsche mir für dich, dass du es versuchst, und dass du nächstes Jahr um diese Zeit zu dir stehen kannst.

Warum fällt es dir so schwer, dich mit den Leuten zu treffen, die du im Internet kennen gelernt hast? Wissen sie von deinem Problem? Oder fürchtest du, trotzdem nicht so akzeptiert zu werden, wie du bist? Du kannst nur gewinnen. Wenn jemand in erreichbarer Nähe wohnt, mit dem du dich gut austauschen kannst - warum es nicht versuchen? Es wird dich Überwindung kosten, und vielleicht auch nicht gleich klappen. Aber es ist einen Versuch wert. Überleg es dir doch nochmal. Wenn du von vorneherein ausschließt, dass du es je könntest - dann wäre das doch schade. Denn gerade das ist doch mit deine größte Sehnsucht - Anschluss zu haben. Aber ob du ihn jetzt so gewinnst, oder auf andere Art, es wäre nie ganz einfach. Auch wenn du so wärst wie die, denen du bislang nachgeeifert hast, wärst du vor Enttäuschungen und Ärger nicht gefeit. Doch dafür riskiert man es ja - weil Kontakt etwas Schönes ist. Du musst ja auch nicht alles auf einmal anpacken. Lass dir Zeit, und überdenke mal in Ruhe, was ich dir geschrieben habe. Denn ist es nicht seltsam, ausgerechnet denen zu gehorchen, die einen auslachen, und so sein zu wollen wie die, die vielleicht weniger wiegen - aber ansonsten weit ärmer sind?

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul