Problem von Anonym - 15 Jahre

Ich bin schwul..

Hallo, ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll. Ich habe all die Jahre dieses Geheimnis in mich verschlungen, die ganze Trauer stapelt sich immernoch..
Ich bin schwul. Ich stehe auf Männer. Meine Familie ist muslimisch, was das alles nicht leichter macht. Ich habe eine schreckliche Vergangenheit, habe vieles getan, was ich bereue, habe mehrere Selbstmordversuche hinter mir (Ich habe versucht mich zu erhängen, und habe (vegeblich) versucht mich mit einer Überdosis Medikamenten umzubringen). Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, werde es auch nicht. Meine Familie hat mich nie akzeptiert wie ich bin. Ich muss mich zusammenreißen, und diesen Text schreiben ohne in Geheule auszubrechen. Ich kann einfach nicht mehr. Ein Outing kommt nicht in Frage. Meine Familie würde mich hassen. Ich sage es nicht nur so. Ich meine es todernst. Meine Familie ist homophob, rassistisch usw.. Ich sehne mich einem Freund. Nicht um einen Freund, mit dem Ich nachts Spaß habe, sondern um einen Freund, in dessen Armen ich einschlafe, der mit mir über meine Probleme spricht, der mir Glück bei Klassenarbeiten wünscht,, Ich weiß nicht was ich tun soll. Dieses Problem kann ich nicht beschreiben. Es klingt so harmlos, dabei wünsche ich mir einfach nur den Tod. Milliarden von Menschen gibt es, wieso musste ausgerechnet ich anders sein.. Ich hatte überlegt von zu Hause wegzuziehen wenn ich groß bin, mein Leben ohne meine Familie zu leben, aber dafür liebe ich sie zu sehr(ich habe jetzt5 minuten gebraucht um weiter zu schreiben, da ich mich nicht halten kann). Man merkt mir, auf jeden Fall jetzt, nicht an, dass ich Schwul bin. Natürlich kann man das nicht merken, aber ich meine Nach den Klischees. Ich habe so viele Selbstmordgedanken, keine Depressionen, da die Gedanken nicht oft eintreten. Nur wenn ich daran denke, dass ich niemals glücklich sein werde. Ich will keine Beziehung heimlich führen. Ich will nicht, dass meine Eltern das alles erfahren, sie werden es auch nie erfahren, auch wenn sie vielleicht die Vermutung haben. immer stelle ich mir die Frage: Wäre es jetzt nicht besser, wenn mein Selbstmordversuch geklappt hättte? Ich hätte diese Qualen nicht mehr. Ich will nicht leben. Auch wenn ich mir wahrscheinlich nicht das Leben nehmen werde, will ich trotzdem nicht leben, Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich kann nicht mit einer Vertrauensperson reden. Ich staue immer alles in mich rein. es ist nur eine Frage der Zeit bis ich explodiere..

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Anonymer,

dein ehrlicher und emotionaler Text hat mich sehr berührt. Eines möchte ich dir gleich zu Anfang sagen: Deine sexuelle Orientierung hat genauso ihre Berechtigung, wie die Liebe zwischen Männern und Frauen. Leider gibt es noch immer viele Leute, die das nicht anerkennen möchten. Und ich lese aus deinen Zeilen auch deine innere Zerrissenheit, weil du einerseits deine Familie liebst, und andererseits deinen Gefühlen folgen möchtest. Die Loyalität gegenüber deinen Eltern, Geschwistern und Verwandten ehrt dich - aber auch du bist ein Mensch, und hast das Recht, dein Leben entsprechend dem zu gestalten, was deine Wünsche dir vorgeben. Sicher wirkt der Gedanke auf dich erschreckend, mit deiner Familie zu brechen. Doch Hand aufs Herz - was willst du sonst tun? Wieder versuchen, dir das Leben zu nehmen, und womöglich damit Erfolg haben? Das wäre nicht fair, und das ist auch nichts Rechtes. Das Problem liegt bei denen, die dir verbieten, was nicht schlimm ist und wofür du nichts kannst - aber auf keinen Fall bei dir.

Wenn du keinerlei Möglichkeit siehst, dass deine Familie es irgendwann akzeptieren könnte - dann heißt das in der Tat, dass irgendwann die Bande zwischen euch reißen könnten. Du bist jetzt 15, und in wenigen Jahren wirst du vielleicht schon deinen eigenen Unterhalt verdienen, und selbstständig leben können. Wenn du ausziehst und einen Job hast, kannst du deine Familie vor vollendete Tatsachen stellen: "Nehmt mich an, wie ich bin - oder lasst mich zufrieden mit euren selbstgerechten Vorwürfen." Ich weiß nicht, was die Folgen sein würden. Vielleicht würden sie wütend reagieren, dir drohen - vielleicht wären sie so geschockt, dass sie gar nichts zu sagen wissen. Vielleicht würden sie den Ärger gegen sich selbst kehren, sich zusprechen "Oh Gott, womit haben wir nur solch ein Kind verdient? Was haben wir nur falsch gemacht?" Vielleicht - und das ist am wahrscheinlichsten - wäre es eine Kombination aus allem. Durch diese Feuertaufe müsstest du. Doch ist sie allemal besser als der Tod. Der Tod ist keine Lösung. Du würdest deine Familie zurücklassen, ohne ihnen auch nur angedeutet zu haben, wie falsch sie sich verhalten. Ich bin mir im Klaren, dass viele Menschen nun einmal in längst veralteten Traditionen festhängen, die für die Gegenwart nicht nur wertlos sind, sondern niemals ihre Berechtigung hatten, und für viel Leid sorgen. Zu diesen gehört auf jeden Fall die kategorische Ablehnung von Homosexualität. Doch was ist deine Alternative? Willst du dich vergraben, dein Leben lang, dich auf einen Weg zwingen lassen, der dir zuwider ist? Willst du dich töten, obwohl doch nicht du das Problem bist, sondern die Umstände, in die du geboren bist, die aber nicht endgültig sind? Oder willst du dich entscheiden - hier und heute entscheiden - dass du deinen eigenen Weg gehen, und zu dir stehen wirst? Es ist nicht leicht. Aber nur durch solche mutigen Entscheidungen, wird das Problem für die ganze Gesellschaft irgendwann gelöst.

Viele Menschen in Deutschland wollen nicht wahrhaben, dass auch ihre Großmütter noch Kopftuch getragen haben. Dass es noch lange kein Menschenleben her ist, dass in Deutschland bei einer Scheidung aller Besitz beim Mann blieb - die Frau war "in Unehre". Dass es noch nicht lange ist, dass ein Mann überhaupt bestraft werden kann, wenn er seine Ehefrau vergewaltigt. Und gerade in diesem Moment wird diskutiert, ob es richtig ist, eine offizielle Entschuldigung für diejenigen Menschen auszusprechen, die aufgrund ihrer Homosexualität verurteilt wurden. Und das noch Schlimmere ist: Es gibt genügend Leute, die kein Problem damit hätten, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Damit das niemals geschieht, ist es wichtig, dass mutige Menschen aufstehen - so wie du einer bist - und erklären, dass sie keine Sklaven der Tradition mehr sein wollen. Ich habe große Hoffnung, dass du es tun wirst. Und eines Tages wird sich dann deine Familie entscheiden müssen: Wollen wir unseren Sohn, der ein erfülltes Leben lebt, vielleicht sogar Familie hat, nicht mehr sehen, seinen Partner, der vielleicht sehr nett ist, nicht kennen lernen - nur weil er mit einer Neigung auf die Welt gekommen ist, für die er nichts kann, und mit der er niemandem schadet? Oder wollen wir, dass er mit seinem Freund Teil der Familie wird, dass wir gemeinsam eine gute Zeit haben? Vielleicht werden sie es nicht schaffen, diese Frage zu ihrem Besten zu beantworten. Vielleicht werden sie stets in den Denkweisen festhängen, die sie eben nicht hinterfragen wollen oder können. Das Denken kann man nicht verbieten - deshalb ist es auch wichtig, dass zuallererst den Menschen geholfen wird, die unter rückständigem Denken zu leiden haben, und die gerne anders leben möchten. Denen, die für ihr Leid sorgen, kann man weder durch Verbote noch durch Beschimpfungen und Streit einprägen, wie es richtig ist. Sie werden nur umso trotziger daran festhalten. Aber du - du möchtest es anders machen, und du kannst auf den Beistand der Gesellschaft zählen.

Du bist anders - doch du bist nicht negativ anders. Du bist nicht so, wie die, die mehr als alle Anderen bereit sein sollten, dich so zu lieben wie du bist - deine Familie! - dich gern hätten. Deine Mutter hat dich geboren, deine Eltern haben für dich gesorgt. Aber musst du dich damit heute erpressen lassen, ein Mensch zu sein, der du nicht sein willst? Bist du ihnen schuldig, das Leben zu leben, dass sie für dich vorgesehen haben? Keineswegs! Trotz allen Unverständnisses und aller Härte, die du erfährst, hältst du daran fest, deine Familie zu lieben. In Not, Alter und Krankheit könnten deine Eltern und Verwandten auf dich zählen, es ist dein Wille. Mehr kann von dir nicht verlangt werden. Wie du im Übrigen lebst, ist ganz allein deine Entscheidung. Und das Ganze muss immer auch von zwei Seiten ausgehen: So wie du deinen Eltern zuhörst, gehorchst und ihre Wünsche befolgst, solange du zuhause lebst, so sind auch deine Eltern verpflichtet, dich wie einen gleichwertigen Menschen zu behandeln, wenn das nicht mehr der Fall ist. Eltern schulden ihren Kindern genauso Verständnis und Respekt, wenn sie ihre eigenen Entscheidungen treffen, wie du die Entscheidungen deiner Eltern lange nicht hinterfragt hast. Jetzt musst du es, denn du würdest dich sonst unglücklich machen. Niemand kann von dir verlangen, dass du tust, was man von dir will, während du dafür nichts als Verachtung und Missgunst erhältst. Mach dich frei davon - entscheide dich, dir selbst gut zu sein.

Hör mir zu: Du wirst nicht sterben. Bitte, riskiere keinen weiteren Selbstmordversuch. Richte deine Energie nicht darauf, dir das Leben zu nehmen, sondern konzentriere dich auf Schule, Ausbildung, darauf, im Leben vorwärts zu kommen. Je eher du dahin kommst, deine Familie vor die Wahl stellen zu können, desto besser. Doch jetzt - wenn du das sagst - ist in der Tat noch nicht der richtige Moment. Ich würde es selbst nicht gut finden, wenn du dich einer Gefahr aussetzt, indem du dich jetzt schon outest. Ich gehe davon aus, dass du deine Familie richtig einschätzt, wenn du sie für so starrsinnig hältst. Bringe dich nicht unnötig in Gefahr - aber beschließe, so zu leben wie du magst. Und beschließe, überhaupt zu leben. Denn du bist in Ordnung, wie du bist. Und es gibt viele, die ein ähnliches Schicksal wie du haben, die anders sind in einem Umfeld, das keine Andersartigkeit duldet. Vielleicht wird dein zukünftiger Freund Ähnliches durchgemacht haben, und ihr werdet euch gegenseitig Kraft geben können? Denk doch einmal daran, das wäre doch schön. Und das Letzte sage ich dir von mir persönlich: Ich will nicht, dass du dich aufgibst - denn das wäre ein schrecklicher Verlust. Der Verlust eines Menschen, der ein schönes Leben hätte haben können. Wenn er eingesehen hätte, dass er kein Problemfall ist, sondern nur Andere einen aus ihm machen wollen. Kannst du das einsehen? Denn wenn du es kannst, dann kannst du auch kämpfen und leben. Ich bin sicher, du wirst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul

P.S.: Wir vom Kummerkasten sind natürlich jederzeit für dich da, wenn dein Problem sich weiterentwickelt, oder du sonst Hilfe brauchst. Wenn du eine Antwort von mir haben möchtest, kann das gerne sein, aber ich bestehe natürlich nicht darauf.