Problem von Andreas - 31 Jahre

Berufliche Verzweiflung

Hallo,
 
Mein Name ist Andreas und ich möchte gerne hier meine stets wachsende berufliche Verzweiflung zum Ausdruck bringen.
 
Ich bin in der "..." in XXX seit bald 12 Jahren beschäftigt. Seit ungefähr 7-8 Jahren bin ich Opfer der schleichenden Depression, die mein Dasein eben dort herbeiführt. Ich fühle mich wie ein Sklave meiner Selbst, meines Umfelds, meiner Beschäftigung.
 
Ich hasse mein Umfeld dort, die Manierismen und Habitus der Kollegen, die Riten und Gepflogenheiten, das Tun und Lassen, ja die bloße Umgebung ekelt mich an. Das ganze Betätigungsfeld und vor allem der Gedanke der, wahrscheinlich, lebenslangen Gefangennahme dort, läßt mich vollends erschaudern. Mein Selbsthass diesbezüglich ist inzwischen derart gewachsen, dass ich mich, bei welcher Handlung dort auch immer, mehr als Reptil betrachte denn als Mensch, mehr mit dickflüssigen Schleim in den Adern, anstelle von heißem Blut.
 
Problem ist nur dieses: Ich wüsste nicht wohin sonst. Mich hat es zufällig dorthin verschlagen, aufgrund von Bekannten. Buchhaltung, Rechnungswesen, Bürokratie - das sind alles Gegenbegriffe zu meinem Wesen. Dieses besteht aus Kreativität und Impulsivität, aus Geist und Chaos, aus Kunst und Ästhetik. Leider wurde mir das viel zu spät gewahr. Zu spät in dem Sinne, da ich zu dem Zeitpunkt schon längst "dort" angestellt war.
 
Zu Schulzeiten wusste ich nicht wie es weitergehen sollte. Ich ließ mich treiben, irgendwie, froh darüber, wieder wo auszuhalten. Wie z.B. an der Handelsschule, die ich anschließend besuchte. Die ich, nach erfolgreicher Absolvierung, wieder verließ und wieder nichts wusste. Dann kam der erwähnte Bekanntentipp. Seitdem trage ich Hundehalsbänder und Häftlingstätowierungen außen am Körper, und innen stauen sich verwerfliche Gedanken. Ersteres natürlich bildlich gemeint.
 
Hindernisse zur Kündigung? Oh, an allen Fronten anzutreffen:
 
Sei es die Familie: Wo die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit das Szenenbild bestimmen, wo alles mit "sei froh darüber" kommentiert wird, wo alles, wirklich alles der existentiellen Notwendigkeit untergeordnet und davon abgeleitet wird. Wo Individualismus und heterogene Ansätze belächelt und fallen gelassen werden. Wo für "Einkommen und berufliche Sicherheit" kein Preis zu hoch ist. Ah, wie gefährlich ist sie doch, die Sicherheit....
 
Sei es der Arbeitsmarkt: Aufgrund meines bisherigen geschilderten Berufsweg meine ich, ich habe zu lange gewartet, zu spät erkannt. Wofür mich meine natürlichen Anlagen auch befähigen mögen, welche Ausbildung sollte ich schon noch beginnen? Und ohne?
 
Sei es die biologische Beschaffenheit: Zu oben genannten Ausbildungen: Kann ich sie mir leisten? Ich bin schwerhörig, ich leide sehr darunter. Kann ich mündliche Prüfungen für dies und das bewältigen? Kann ich überhaupt daran teilnehmen? Oder bin ich determiniert?
 
 
Ich bin anders, ich bin wirklich anders. Ich bin nicht besser, ich bin anders. Ich fühle anders, ich denke anders, ich liebe anders, als alle meine bisherigen Mitmenschen. Längerer Aufenthalt mit mir erzeugt Unbehagen, dabei liebe ich die Menschen. Erwähne ich aus diesen Grund: Auch kollegial existieren Furchen und Gräben. Die Heterogenität wird erkannt und zur Kenntnis genommen, heißt: aus dem Wege gehen, tuscheln, das Gerede kultivieren, die Blicke zur Belustigung/Verachtung/Ignoranz schärfen. Auch dies geht mir inzwischen stark ins Mark. Nur, darüber "reden" oder irgendetwas "aufklären" funktioniert auch nicht. Dazu werde ich viel zu sehr präventiv gemieden und ignoriert
 
Die erwähnten Anlagen: ich liebe das Wort, die Literatur, die Dichtung, ich bin dort selbst ein Schaffender. Ich liebe die Anschauung, das Bild, die Kunst, zeichne demnach auch. Ich liebe die Philosophie und Geisteswissenschaften, die Freiheit des Geistes, seine Destruktivität und Produktivität, selbst betätige ich mich auf dieser großen Spielwiese.
 
Wie Sie sehen, nicht geeignet für Buchungssatz und Eilnachricht, für SAP und Erbsenzählerei. Ich bitte Sie also um Rat.
 
Danke
 
Andreas

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Andreas!

Bitte wundere dich nicht: Ich habe deinen Arbeitsplatz und deinen Wohnort zensiert, um dich nicht erkennbar zu machen.

Es ist mir ein Genuss, deine wohlklingenden und mit Bedacht gewählten Sätze zu lesen; dein literarisches Talent kommt sehr gut zum Vorschein!
Und ich kann sehr gut verstehen, dass du für SAP nur Geringschätzung übrig hast ;D

Vermutlich hast du einige Privilegien und Vorteile: Intelligenz, Eloquenz, Empathie, gute Umgangsformen, Bildung, vielseitige Interessen, hohe Aktivität im künstlerischen Spektrum und ein großes schöpferisches Potenzial. Nun fehlt dir eines entscheidend zu deinem Glück: Der Mut, dein Potenzial und deine Leidenschaften auszuleben.

Was bremst dich so aus? Ist es schlicht Angst?

Du kannst sehr wohl eine neue Ausbildung oder ein Studium beginnen, auch jetzt noch! Lege dir bitte nicht selbst Denkverbote auf! Schau auf deine Interessen, Präferenzen und Talente - und gehe damit verantwortungsvoll dahingehend um, dass du sie nicht verkommen lässt.
Und ja, du bist in deiner Freizeit um einen abwechslungsreichen Ausgleich zu deiner Tristesse am Arbeitsplatz bemüht, doch scheint das nicht auszureichen. Deine Frustration ist über Jahre gewachsen und muss mit einem rigorosen Schlussstrich beendet werden!

Ich glaube, die wahren Determinanten sind nicht deine Schwerhörigkeit und die Enge deines beruflichen Umfeldes. Sondern allein du selbst determinierst dich, indem du dir nicht die Freiheit zugestehst, die in dir schreit und wütet.
Eine Ursache hierfür kann eine bisher unerkannte Hochbegabung sein, für die es zumindest in deinen Ausführungen einige Anhaltspunkte gibt. Vielleicht sorgt sie dafür, dass du chronisch glaubst, nicht "gut genug" für die eigentlich spannende Welt außerhalb deiner "Gefängnismauern" zu sein... und dann nicht den Mut und die Kraft findest, es einfach drauf ankommen zu lassen. Viele Hochbegabte sind sich ihrer eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten allzu deutlich bewusst, weswegen sie sich mitunter den "großen Sprung" nicht zutrauen. Du erinnerst mich an ein einst lebhaft gewesenes Vögelchen, das nun hängenden Kopfes in seinem goldenen Käfig sitzt, während es die anderen Vögel draußen am Fenster vorbeifliegen sieht...

Wie wäre es, wenn du dich zunächst mit dem Themenfeld Hochbegabung befasst - um als Gewissheit, (wenn bei intensiver Lektüre dein Herz und dein Verstand sich erkannt und angesprochen fühlen!) im Anschluss daran einen IQ - Test in einer psychologischen Praxis durchführen zu lassen? Viele hochbegabte Menschen erfahren erst in deinem Alter von ihren geistigen Möglichkeiten und hatten vorher das Gefühl, "nicht alles geben zu können". Die offizielle Diagnose kann dann wie ein Befreiungsschlag wirken und ungeahnte Kräfte entfesseln, die Mut und Selbstsicherheit geben. Das wäre doch toll, wenn du nicht nur mehr über dein Wesen und deine Stärken erfahren, sondern auch diese gezielt umsetzen könntest! Übrigens gilt das auch für alle Personen, die "nur" überdurchschnittlich begabt sind (die Übergänge sind natürlich fließend).
Dann kann eine gezielte Stärken-Schwächen-Analyse erfolgen, in der es um optimale Arbeitsbedingungen für dich gehen kann (z.B. Selbstständigkeit vs. Angestelltenverhältnis; Einzelarbeit vs. Teamarbeit), deine größten Begabungen extrahieren und das finden, was dir schnell Flow-Momente bereitet und dich glücklich macht. Das solltest du beruflich verfolgen!
Aus der Ferne kann ich dir allerdings nicht sagen, ob du dir einen vorwiegend künstlerischen, sozialen oder geisteswissenschaftlichen Wirkungskreis suchen solltest (oder eine Kombination aus mehreren). Daher: Probiere dich aus! Nutze Praktika, lies Arbeitsportraits, befrage andere Menschen, wie sie arbeiten und was der Reiz für sie ist.
Im besten Fall kannst du gleich mehrere Stärken und Passionen in einem Job vereinen; eine Arbeit mit Senioren, jungen Menschen oder psychisch Erkrankten kann beispielsweise viele kreative Inhalte haben (Stichworte u.a.: Alltagsbegleitung, Ergotherapie, Kunsttherapie).

Natürlich ist deine Schwerhörigkeit ein relevanter Faktor in dem Ganzen, doch denke ich, dass es da durchaus Kompensationsmöglichkeiten und passende Betätigungsfelder gibt. Ich würde mich einfach erkundigen, was du selbst technisch und präventiv tun kannst, um den Nachteil auszugleichen. Schränke dich da bitte nicht künstlich ein, indem du annimmst, dass du kaum Arbeit finden könntest!
Und in Ausbildungen hast du auf jeden Fall einen Schutzraum - denn es soll ja gewährleistet werden, dass Menschen mit Behinderung bzw. Einschränkungen ebenso ausgebildet werden können.

Was würde dich denn davon abhalten, deinen Beruf von heute auf morgen zu kündigen und dich zunächst neu zu justieren? Als Absicherung könntest du ja sogar eine Übergangszeit einplanen, in der du das "Ausbrechen" planst und ggf. finanzielle Polster aufbaust, wenn nicht schon in ausreichendem Maß vorhanden.
Das Argument "Familie und deren Meinungen" lasse ich nicht gelten. Du bist ein erwachsener Mensch und niemand hat dir da reinzureden. Ich glaube, das Thema Grenzen setzen genauer zu betrachten ist für dich ebenso aktuell wie mögliche Hochbegabung... einerseits deine eigenen Grenzen wahrnehmen und nach außen hin vertreten, andererseits auch nach innen, indem du erspürst, wann dir etwas zuviel wird. Ich finde es eine gruselige Vorstellung, wie lange du an deinem Arbeitsplatz schon ausharrst, zu Tode gelangweilt und mit für dich unpassendem Umfeld! Da hast du deine eigenen Grenzen rigoros missachtet.

Falls dir die Konstellation aus "örtliches Gefängnis verlassen" und Familie nicht geheuer ist, denke doch einfach über einen Wegzug nach. Entweder national - oder du suchst dir ein Land raus, das dich wegen bestimmter Gesichtspunkte fasziniert und dir womöglich sogar beruflich mehr Perspektiven bietet. Ein Wegzug kann auch den kontraproduktiven Einfluss der Verwandtschaft etwas eindämmen.

Es gibt so viele Bereiche neben dem beruflichen, in dem du dich gewinnbringend für alle Beteiligten einbringen kannst: Sei es ein Ehrenamt (oder gar mehrere), ein Verein, in dem du dich z.B. mit anderen kunst - und literaturbegeisterten Leuten treffen und austauschen kannst, um (noch) mehr Inspiration zu erfahren, sei es, dir nahestehenden Menschen bei einschlägigen Herausforderungen zu helfen, welche dir in der Bewältigung einfach leicht fallen.
Angenommen, du bist tatsächlich hochbegabt (was definitiv einfach ein Anderssein ist, nicht ein "besser" oder "schlechter", wie leider häufig suggeriert wird...), hast du die Möglichkeit, an Stammtischen und diversen Veranstaltungen für (Hoch)Begabte teilzunehmen und dadurch endlich unter Menschen zu kommen, welche deine Denkweisen, Weltsichten und Empfindungen teilen oder zumindest partiell verstehen können. Das ist doch eine paradiesische Vorstellung, oder?

So, nun liegt es an dir, den schwarzweißen Kittel und die selbst auferlegten Fußfesseln abzustreifen.
Du kannst das! Nun musst du dich nur trauen.

Hier noch ein paar ausgewählte Lektürehinweise zum Thema Grenzen setzen und Hochbegabung:
- https://www.zartbesaitet.net/informationen-fur-hsp/liebevoll-grenzen-setzen/
- Eliane Reichardt: Hochbegabt? Potenziale erkennen und fördern
- Jeanne Siaud-Facchin: Zu intelligent, um glücklich zu sein? Was es heißt, hochbegabt zu sein


Alles Liebe - und viel Erfolg beim Durchstarten!
Nuala