Problem von Sean - 30 Jahre

Ich bin eine Enttäuschung und überflüssig.

Hallo,

ich schreibe hier einmal ganz dreist, da ich nicht mehr so recht weiter weiß. Ich habe mich schon in vielen Foren registriert, doch, ich nenne es jetzt einmal ganz dreist, Aufmunterung oder helfende Vorschläge habe ich dort nicht bekommen. Zudem deckt mein "Kummer" mehrere der oben angebbaren Felder ab, weshalb ich einfach mal mit mir selbst angeklickt habe.
Zu mir: Ich bin 30, sehr kreativ in einem breiten Spektrum, kann aber nichts richtig, da ich mich nie fest entscheiden konnte, was mich eigentlich interessiert. Das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten war einfach nie da, zudem kann ich mich einfach nicht aufraffen. Der Auslöser dafür war ein Missbrauchsfall in meiner Jugend.
Dafür hatte ich immer im Hinterkopf, fest arbeiten zu müssen und Geld verdienen zu müssen. 10 Jahre habe ich mit einer schweren Depression gelebt und nun bin ich zwar einigermaßen stabil, sprich selbstmordfrei, aber an einem Punkt, wo ich absolut ratlos und niedergeschlagen bin. Ich habe keine abgeschlossene Ausbildung, bin zu "dumm" für einen stinknormalen Kaufmannsberuf und, wie oben schon erwähnt, so kreativ, das ich dauerhibbelig bin, aber trotzdem nichts auf die Reihe kriege. Ich wohne, nachdem mich meine Lebensgefährtin nach 10 Jahren Depri verlassen hat, wieder bei meinen Eltern eingezogen. Ausgerechnet die Personen, denen ich einen angenehmen Rentenabend gewünscht hätte, müssen mich nun durchfüttern. Ich fühle mich, wie der letzte Dreck, unnütz und als eine Enttäuschung für alles und jeden in meinem Umfeld. Freunde habe ich auch schon seit Jahren keine mehr, da diese sich ja alle nach Vorne bewegt haben, nur ich nicht. Ich weiß einfach nicht mehr weiter.

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Sean!

Deine Worte bewegen mich und ich will dir helfen.
Allein deine gewählte Überschrift schmerzt mich - du bist keine Enttäuschung und auf gar keinen Fall überflüssig!! Du fühlst dich so, als wärst du dies, doch in Wahrheit bist du ein verunsicherter und orientierungsloser Mensch, der viele Potenziale in sich trägt. Du bist wie ein Schiff ohne Ziel, treibst auf den Wellen dahin. Doch du hast im Schiffsbauch viele Schätze. Du schreibst sogar davon: Du bist eine sehr kreative und energiegeladene Person. Das sind zwei tolle Eigenschaften! Ich werde nun auf die von dir genannten Einzelheiten eingehen.

Es tut mir sehr leid, dass du als Jugendlicher sexualisierte Gewalt erfahren musstest! Ich kann an dieser Stelle nur betonen, dass du diesen Verfall bestenfalls therapeutisch aufarbeiten solltest, sofern dies noch nicht (ausreichend) geschehen ist. Denn solange deine Seele noch wund ist, wirst du deine Fähigkeiten nicht in vollem Umfang einsetzen können. Es wird immer etwas bleiben, was dich hemmt und ängstigt. Falls du aber sagst, dass du mit den vergangenen Erfahrungen mittlerweile leben kannst, d.h. Strategien und Denkweisen zur Hand hast, um dich im Alltag nicht "umwerfen" zu lassen und dies daher aktuell nicht das gravierendste Problem für dich ist, kannst du dich natürlich auf deine Persönlichkeitsentwicklung konzentrieren. Das Ganze gilt auch für die Depression, die ja mit deiner Gewalterfahrung zusammenhängen kann. Also: Du brauchst eine solide Grundlage, dich weiterentwickeln zu können.

Zum Thema Selbstzweifel: Wahrscheinlich bist du ein intelligenter, reflektierter und umsichtiger Mensch, der kritisch denken kann. Gerade mit diesen Eigenschaften neigt man dazu, sich selbst klein - und schlecht zu machen und die Anderen als die besseren, tolleren und erfolgreicheren Menschen anzusehen. Eine absolute Verzerrung der Umstände! Du bist bei dir selbst wohl besonders kritisch und streng. Zusammen mit ungünstigen Kindheitserfahrungen wie wenig Zuneigung, Bestätigung und Förderung kann das eine toxische Mischung ergeben, weil du dann zu wenig gelernt hast, fair zu dir selbst zu sein und dich auch mal zu loben. Denn realistisch betrachtet hast du viele Stärken, die gesehen und umgesetzt werden wollen. Die Schwächen hingegen kannst du als solche annehmen, musst sie aber nicht über die Gebühr beachten. Lass einfach das, was du nicht gut kannst oder dich nicht interessiert, möglichst beiseite. Fokussiere dich auf deine Leidenschaften, Talente, Interessen! Das ist das, was für dich relevant sein sollte, damit du auf breiter Linie in Beruf und Privatleben persönlichen Erfolg haben kannst. Es bringt nichts, auf Krampf etwas zu verbessern, was nur sehr bedingt veränderbar ist. Sicher, wenn es dir aus pragmatischen Gründen nützlich ist, kann es gut sein, auch mal die Zähne zusammenzubeißen und sich durch ein ungeliebtes Thema durchzukämpfen. Doch nur als "Mittel zum Zweck"! Du wirst nie ein Pragmatiker werden können, also versuch es einfach nicht mehr. Du wirst kein Kaufmann, weil du nicht so gestrickt bist. Das hat nichts mit Dummheit, Unfähigkeit oder anderen Unzulänglichkeiten deiner Person zutun, sondern einfach damit, dass du lange Zeit versucht hast, dich dem Mainstream anzupassen. Nun ist die Zeit reif, dass du dich konkret auf deine wahren Wünsche besinnst. Auch wenn unsere Gesellschaft andere Normen vorgibt. Das musst du zu deinem eigenen Glück ein ganzes Stück weit ignorieren. Also statt an Spezialisierung, Anpassung und Wettkampf am individuellen Zielen arbeiten, welche dich erfüllen und befriedigen.

Das Annehmen der eigenen Qualitäten ist das Eine. Nun fragst du dich ja auch, was du damit konkret machen kannst. Zu deiner Beruhigung kann ich sagen, dass es den meisten vielseitig begabten und kreativen Menschen so geht, dass sie einigermaßen verzweifelt sind und nicht wissen, was sie mit ihren Begabungen anstellen sollen. Dazu gebe ich dir mehrere Lesetipps: Unbedingt solltest du das Buch von Barbara Sher lesen, das deine Situation sehr gut aufgreift: "Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast" und "Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will." Sie hat auch eines verfasst mit dem Titel "Wie ich herausfinde, was ich wirklich will." In ihren Büchern greift sie die Thematik der Scanner- Persönlichkeiten auf. Das sind die Leute, die wie du sehr kreativ sind und entsprechende Potenziale in sich tragen, aber sich aufgrund ihrer vielfältigen Interessen und eigenwilligen Gedanken - und Lebensweisen nur schwer in die Standard - Arbeitswelt einfügen können und wollen. Sie haben also fantastische Anlagen, die aber oft zu wenig gewertschätzt werden und durch rigide berufliche Anforderungen nur schwer vollumfänglich entfaltet werden können. Außerdem hier ein Artikel zu Scannern:
https://open-mind-akademie.de/vielbegabte-multitalente-die-scannerpersoenlichkeit/

Gut, wenn du dich informiert und über dich selbst viel nachgedacht hast, ist schon viel gewonnen. Für das berufliche Weiterkommen muss dann eine genaue Analyse erfolgen. Dazu kannst du dir Fragen wie diese stellen:
- Was will ich WIRKLICH? Unabhängig davon, was mir von außen zugetragen wird? (es geht darum, dass du ganz "unzensiert" alle Träume und Sehnsüchte aufspürst und diese am besten verschriftlichst).
- Was will ich keinesfalls?
- Welche Interessen und Neigungen kann ich sinnvoll miteinander verknüpfen, sodass ich möglichst viel abgedeckt habe und mich nicht verzettele?
- Was ergibt Sinn, ist mit der Realität vereinbar?
- Welche Berufsfelder erlauben es mir, meine Kreativität frei auszuleben?
- Was will ich beruflich tun, was reicht mir als Hobby oder sporadische Aktivität?
- Was hemmt mich daran, bestimmte Träume in die Tat umzusetzen? Warum? Was kann ich dagegen tun?
- Will ich überhaupt fester Lohnarbeit nachgehen - und wenn ja, wie viele Wochenstunden reichen mir?
...und viele mehr (in den oben genannten Büchern gibt es hierzu sehr viel Input).
Ein ausgedachtes Beispiel zur Veranschaulichung: Angenommen, du bist nicht nur kreativ und fit im Kopf, sondern auch sozial begabt. Dann eignen sich Berufe mit Kindern und Jugendlichen, z.B. als Erzieher, Kunstlehrer, Sozialarbeiter. Das sind Bereiche, in denen es immer auch auf bunte und liebevolle Umsetzungen von Themen und Inhalten geht. Sei es in Form von selbst ausgedachten Spielen, spannenden Geschichten, ansprechenden Plakaten, mitreißenden Tagesaktionen.

Bitte bedenke: Die berufliche Etablierung ist ein langer Prozess. Und heutzutage sind lebenslanges Lernen /Weiterbildung und Brüche in der Biografie sowieso nichts Außergewöhnliches mehr. Daher ist es sehr wesentlich, dass du dir die erforderliche Zeit für deine Entscheidungen und Entwicklungen zugestehst und Geduld mit dir hast. Du wirst nicht von einem Tag auf den anderen alles ändern. Es wird auch Rückschritte geben. Oder Veränderungen in Minischritten. Das ist alles ok! Und allemal besser, als zu stagnieren und in Unzufriedenheit zu verharren. Oder sich irgend welchen Vorgaben anzupassen, die einen nur unglücklich machen.

Bezüglich deiner Eltern: Ich sehe es ehrlich gesagt nicht als Niederlage an, dass du wieder bei ihnen eingezogen bist. Denn sicherlich ist ihnen genauso klar, dass du das nicht tust, um es dir bequem zu machen und dich nicht zu bemühen. Bestimmt merken sie, dass es dir unangenehm ist. Hilfreich sind Gespräche, in denen transparent wird, was du anstrebst, welche zeitliche Ausdehnung das Wohnen bei ihnen haben kann/soll etc. Sprich mit ihnen darüber, dass du aktiv um eine Veränderung deiner Lebenssituation bemüht bist - sofern das nicht sowieso schon deutlich ist. Wenn ihr ein gutes Verhältnis zueinander habt, kannst du ruhig ihre Unterstützung annehmen und dich mit ihnen austauschen. Sie kennen dich ja gut genug, um dir noch Denkanstöße, Tipps und Einschätzungen zu deinen Fähigkeiten zu geben.

Du kannst ja auch einen Kompromiss eingehen und dich erstmal mit irgend welchen Tätigkeiten über Wasser halten, die schlicht Geld bringen, sodass du bei deinen Eltern ausziehen kannst. Und sei es mehrere Aushilfstätigkeiten. Da kannst du ja schauen, dass du welche findest, die dir nicht völlig zuwider sind. Gerade im Bereich Senioren/Familienhilfe/Pädagogik ist viel zu machen, auch die Arbeit mit Geflüchteten ist sinnstiftend und kann kreative Elemente enthalten. Oder in einer Bibliothek, einem Stadtteilzentrum, einem Kulturwerk etc.

Wie wäre es mit einer Wohngemeinschaft? Das könnte dich auch wieder mehr in Richtung nette Leute/neue Freund:innen bringen. Und eine finanzielle Entlastung ist es außerdem.

Bitte ziehe den Kopf aus Scham nicht ein! Geh raus, triff neue Menschen. Du hast kein Verbrechen begangen, also benimm dich nicht so! Du wirst erstaunt sein, wie vielen Leuten es ähnlich geht wie dir. Es mag sein, dass du deine gewohnten Kreise verlassen musst, um Gleichgesinnte zu finden. Doch wenn du gezielt deine kreative Ader auslebst, wirst du viele Andere finden, dich dich verstehen und nicht ablehnen. Im Gegenteil: Du wirst die Erfahrung machen, genau deswegen geschätzt und als "Verbündeter" gesehen zu werden.
Wer dich wegen bisher ausbleibendem "Erfolg" meidet, ist ohnehin nicht richtig für dich. Denn du bist genau so gut, wie du bist. Punkt.

Ich wünsche dir alles Liebe!
Nuala