Problem von Ole - 19 Jahre

Immer stärker werdende Suizidgedanken- was dagegen tun ?

Moin ,
hätte nie gedacht, das ich irgendwann mal, wenn auch nur anonym, über meine Probleme spreche.
Habe schon seid Monaten Suizidgdanken aber in letzter Zeit kommen diese täglich. Immer wenn ich mit dem Auto auf der Landstraße unterwegs bin schaue ich mir die Bäume an und denke mir das ich nur einmal mit 180 dagegen fahren müsste und alle Probleme wären weg. Ich bekomme meinen Alltag momentan überhaupt nicht mehr hin und belüge quasi meine ganze Familie. Kann nüchtern eigentlich kaum noch einschlafen, muss mich immer mit Alkohol oder Gras betäuben damit ich überhaupt Ruhe finde. Konsumiere mittlerweile auch schon viel zu viel Drogen. Spüre die ganze Zeit dieses Gefühl der Angespanntheit und kann kann auch nicht richtig durchatmen, teilweise verkrampf ich richtig.
Ich kann mir momentan überhaupt keine Zukunft für mich vorstellen weil ich gerade alles kaputt mache , Studium verhau ich wenn es so weiter geht aufjedenfall und dann kein Plan was dann ist. Hätte zwar Leute um darüber zu reden, aber kann einfach nicht über meine Gefühle reden. Freuden und Familie können auch nicht merken was mit mir los ist, da ich nach außen eigentlich ziemlich normal wirke - ist mir auch sehr wichtig diese Fassade aufrecht zu erhalten.
Ziehe mich sozial aber teilweise schon zurück und Sachen die mir früher Spaß gemacht haben interessieren mich mittlerweile nicht mehr.
Wenn ich nicht schlafen kann gehe ich manchmal raus und schlage meine Hand blutig, das gibt mir dann irgendwie Ruhe und ich kann schlafen.
Ich habe mir schon vor Monaten meinen 20. Geburtstag als ‚Endtermin‘ festgelegt falls sich bis dahin nichts ändert und der ist nächsten Monat. Keine Plan was ich noch machen kann ich lieg abends im Bett und hab schon Angst morgens aufzuwachen weil ich den Tag eh wieder nichts auf die Reihe bekomme.

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Ole,

du hast leider lange Zeit auf eine Antwort warten müssen - wir sind zurzeit ziemlich knapp besetzt. Da ich jedoch annehme, dass dein Problem - das, man muss es sagen, nicht zu unterschätzen ist - weiter besteht, sollst du auf keinen Fall ohne Ratschlag bleiben. Ich bitte dich sehr um Entschuldigung wegen der langen Wartezeit.

Grundsätzlich ist dir selbst vermutlich schon längst klar: Dein Problem reproduziert sich selbst. Wenn du deine Unruhe mit Drogen betäubst, sodass zu deiner allgemeinen Angst noch Schuldgefühle kommen, dann wird sich deine Gefühlslage nicht stabilisieren. Ganz im Gegenteil: Du hast dir angewöhnt, durch künstliche Hilfsmittel aus deinem Schmerz zu flüchten, die aber, wenn ihre Wirkung nachlässt, umso größere Verzweiflung und Scham über dich ausgießen. In dieser Lage wirst du dich, sobald eine Gelegenheit erscheint, immer wieder aufs Neue zu Drogen flüchten. Von der Tatsache abgesehen, dass du dich dem Risiko aussetzt, unter Drogen (oder wegen Drogen) mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, gilt es aufzupassen, dass zu deinen Suizidgedanken nicht noch eine Sucht kommt (falls es nicht bereits geschehen ist).

Soweit die Fakten, die auch dir bekannt sind. Es ist nicht schön und nicht leicht, es sich einzugestehen: Aber der erste Schlüssel, um wieder etwas Ruhe in dein Leben zu bringen, bist du selbst. Du musst vom Alkohol Abstand nehmen - am besten vorerst ganz, und für das Gras gilt das sowieso. Es kann dir nichts einbringen - es ist eine Flucht und, davon abgesehen, eine Gefahr. Und ich denke, es wird dich nicht überraschen, dass ich deinen Plan, dir das Leben zu nehmen, nicht unterstütze. Nein, Ole - so billig kommst du mir nicht davon. Es ist entsetzlich, zu sehen, wie das eigene Leben unter den Fingern sich auflöst - und dein Schmerz ist wirklich nachvollziehbar. Dass du aber deswegen aus dem Leben scheiden zu müssen glaubst, ist etwas, das kein Mensch, der Gerechtigkeitsempfinden hat, hinnehmen kann. Denn was soll das für eine Gerechtigkeit sein, wenn du dir selbst nicht die Chance gibst, dich zu bewähren, wenn du dich gezwungen siehst, dir Schmerzen und Schaden zuzufügen, und damit deinen ohnehin schon großen Problemen neue hinzufügst? Ich rede von der Gerechtigkeit dir selbst gegenüber, Ole. Offensichtlich misst du dir selbst keinen Wert bei - das muss sich ändern.

Wenn du den geringsten Wunsch hast - und ich bin sicher, du hast ihn, sonst würdest du uns nicht geschrieben haben - dass dein Leben wieder in geraden Bahnen verläuft, dann musst du einen Ersatz für die Selbstverletzungen und die Suchtmittel finden. Fangen wir beim Naheliegendsten an: Körperliche Betätigung. Die nasse Jahreszeit steht bevor; das ist zwar nicht eben die beste Zeit, um draußen Sport zu betreiben, aber eine der besten, um den eigenen Körper zu erleben. Fahr aus der Stadt, begib dich in die Natur - lass den Regen über deine Haut laufen, und renne, bis du glaubst, deine Lungen müssten platzen. Wenn du glaubst, dass es hilft, zieh dein Shirt aus, lass das Wasser an deine nackte Haut gelangen, drück dir die feuchten Haare ins Gesicht, rieche deinen Schweiß. Du musst so müde sein, so erschöpft, dass du gar nicht mehr daran denken kannst, das Feuer deiner Gedanken mit Alkohol zu löschen.

Ich habe keine Vorstellung, wie es in deinem Zimmer oder deine Wohnung aussieht. Aber es gibt einigen Grund, anzunehmen, dass dein seelischer Zustand darin gespiegelt ist. Das verlangt nach einem Ritual der Reinigung. Pack alle Flaschen, die du finden kannst, in einen Karton, und trag ihn auf die Straße, bring das Zeug weit weg, sodass es ganz aus deinen Augen und deinem Denken ist. Bring Wasser in jeden Winkel deines Zimmers, damit jeder Krümel Schmutz und damit auch die Reste der Drogen vollständig verschwinden. Putz die Fenster, reiß sie weit auf und lass das Wetter hinein. Sorge für frische Bettwäsche. Befreie dich selbst von allem materiellen Ballast, allen Dingen, die dich an unschöne Ereignisse erinnern. Wenn du noch Schulsachen herumliegen hast, die jedesmal den Gedanken an Demütigungen und schlechte Noten und Frust und Streit wachrufen - weg damit. Sammle jeden Zettel, jeden Rest, jede Dose und jede zerlesene Zeitschrift ein, alles, was du nicht mehr unbedingt brauchst - befreie dich davon. Zur Not kann es sein, dass du die Hälfte deiner Einrichtung, alles, worauf du nicht angewiesen bist und was nicht mit deinem jetzigen Leben zu tun hat, entsorgen musst. Aber verstehe, worum es mir geht: Die Leere ist in dir. Sie muss aus deinem Herzen raus und in dein Leben, sodass dein Leben wieder eine weiße Leinwand wird, die du bemalen kannst. Dein Leben sei ja schon leer, magst du sagen - das ist aber falsch: Es ist vielmehr vollgestellt mit Altlasten, mit nicht bewältigtem Streit, mit Enttäuschungen, mit Wut und mit Ängsten - und zu allem gibt es etwas, das jeden Tag die Erinnerung wachruft. Das muss verschwinden. Dann atmest du freier. Versuche, dir eine Ordnung zu schaffen und jeden Tag konsequent einzuhalten. Lass für die erste Zeit keinen einzigen Gegenstand zu, der keine exakte Funktion und nicht seinen eigenen Platz hat; lass nicht das Geringste herumliegen. Dein Denken muss darauf gerichtet sein, in jedem Augenblick die Ordnung um dich zu erhalten. Denn Ordnung bedeutet Kontrolle, und Kontrolle bedeutet Richtung, und Richtung bedeutet Zukunft.

Gibt es jemanden, dem du etwas sagen willst, Ole? Jemanden, den du enttäuscht hast? Gibt es einen Freund, mit dem du dich zerstritten hast - Menschen, die du verletzt hast? Wolltest du schon länger mal deiner Oma sagen, dass du sie liebst, aber hattest das Gefühl, du könntest ihr nicht unter die Augen treten? Auch das alles sind Lasten, die weggeschafft werden müssen, Ole. Tätige die Anrufe, schreibe die Briefe, führe die Gespräche, die notwendig sind. Auch wenn du keine Offenheit erwarten kannst: Es ist immer besser, wenigstens um Verzeihung gebeten zu haben, wenigstens "Es tut mir leid" gesagt zu haben, statt immer mit Schuldgefühlen und "Hätte ich doch" zu leben. Keine Macht der Welt bringt die Vergangenheit zurück. Aber die Vergangenheit - egal, wie schlimm sie war - ist kein Grund, die Zukunft sich selbst zu überlassen. Du hast der Welt noch etwas zu geben - und das Erste und Wichtigste ist, dass du deshalb deinen Stolz zurückgewinnst. Lass keine Rechnung offen, sondern stelle dich allen Situationen, die du seit langem vermieden hast. Nur so kannst du gedanklich freier werden. Es ist für den Anfang nicht leicht - aber es ist ein Anfang, und darauf kommt es an.

Schließlich, Ole: Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich, dass du ohne professionelle Hilfe aus dieser Situation heraus kommst. Ich kann dir nur Tipps geben, wie du dein Problem isolieren und klarer sehen kannst - wie du davon ganz frei werden kannst, wissen viele Menschen besser als ich. Ich sage dir auch ganz offen: Es wäre gut, wenn du über einen stationären Aufenthalt in einer Klinik nachdenken würdest. Du brauchst wahrscheinlich nicht nur einen Wandel in deinem Leben, sondern vorerst auch einen räumlichen Abstand - einen, in dem jemand dir zur Seite steht und du außerdem erfahren kannst, dass du nicht allein bist mit deinen Problemen. Darüber hinaus zeigt die Tatsache, dass du auch im Alltag schon konkret mit deinem Leben spielst und konkrete Pläne entwickelt hast, wie groß deine seelische Last geworden ist, und dass die Gefahr auf keinen Fall unterschätzt werden darf. Geh daher mit dir zu Rate und frage dich, ob du nicht - ehe du zulässt, dass dir ungerechterweise ein Leid geschieht - nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen willst, um wieder Sinn in dein Leben zu bringen. Ich wünsche es dir sehr, dass du diesen Entschluss fasst - und ich bin sicher, es kann dir gelingen. Doch die Entscheidung kann dir keiner abnehmen, du musst sie ganz allein treffen. Ich war einmal selbst in der Situation, in der du jetzt bist - vielleicht glaubst du mir daher, dass ich deine Lage durchaus so ernst nehme, wie es angemessen ist. Und glaub mir, ich nehme sie sehr ernst. Deshalb solltest unbedingt auch du das tun, und dir klar machen, dass du Hilfe brauchst. Es gibt sie. Doch du musst wollen.

Und wenn du wieder etwas WILLST, Ole, dann stellt das ein Ziel dar. Und ein Ziel zu haben, ist der erste Schritt zur Heilung. Dein momentaner Zustand ist demgegenüber von völliger Ziellosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ungerechtigkeit gegen dich selbst geprägt. Wenn es dir gelingt, zum ersten Mal wieder einen Wunsch zu formulieren - und zwar den Wunsch, dass es weitergehen, dass etwas passieren soll - dann kannst du auch weiter und weiter Schritte machen, bis du wieder Licht am Ende der Dunkelheit siehst. Es gibt diesen Weg - und du kannst ihn gehen, du kannst dich vor allem entscheiden, ihn zu gehen. Ich vertraue fest auf dich.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul