Problem von Anonym - 18 Jahre

Ich weiß nicht mehr weiter !

Hallo liebes Kummerkasten-Team,
Einmal kurz was zu mir:
Ich bin ein 18 Jahre altes Mädchen, habe vor knapp 2 Wochen meine Ausbildung zur Verkäuferin beendet und habe mit meinen 18 Jahren, (fast 19 Jahre alt) denke schon sehr viel negative Erfahrungen und schlechte Erlebnisse gehabt.
Nun zum eigentlichen Thema.
Ich fange dann mal von ganz vorne an.
Angefangen hat alles vor gut 9 Jahren, damals hatte ich Probleme in der Grundschule mit Mobbing, aufgrund eines Unfalls wo mir meine komplette obere Zahnreihe entfernt worden ist.
Damals war es nur leichtes Mobbing, Schimpfwörter wie “Zahnloses Biest“ oder “Kippenmonster“ haben mich trotzdem mit meinen jungen Jahren sehr getroffen.
Als ich ungefähr 10 Jahre alt war, habe ich 2 Schulwechsel erlebt, was an sich gar nicht so schlimm war. Ich war wortwörtlich froh das meine Eltern und ich in eine andere Stadt gezogen sind und dann wieder in eine andere Stadt.
In der 5ten klasse schätze ich, hat alles dann angefangen. Ich hatte Freunde, dass will ich nicht bestreiten und in der Schule lief auch alles super. Mit meiner Familie lief es nie besonders gut, öfter hatten wir Streit was auch jetzt noch so ist. Damals litt ich nicht besonders darunter, weil ich das meiste gar nicht verstanden habe.
Damals habe ich mich angefangen zu Ritzen, ja genau mit 10 Jahren habe ich schon ans ritzen gedacht. Das Mobbing wurde immer schlimmer, ich würde mit essen beworfen, in den Pausen zusammen getreten und es hat niemanden interessiert. Niemanden!
Mit meinen Eltern konnte ich nicht reden, aus Angst, da sie genug Probleme in dem Zeitpunkt hatten.
Ich habe mich immer mehr zurück gezogen, habe Freunde verloren in einer meine Schwester Zeit als Kind und mein Vater hat mich angefangen körperlich zu misshandeln. Ich konnte mit keinem reden.
Mit 14 würde ich dann vergewaltigt von meinem zwei Jahre älteren Cousin an Sylvester. Darunter litt ich auch eine sehr lange Zeit noch, habe mich wieder angefangen zu verletzen, an meinen Beinen, armen und am Hals.
Mit 16 Jahren habe ich in meiner damaligen Schule eine Morddrohung per Post bekommen, die meine Eltern dann auch fanden.
Es wurde ein Strafverfahren gegen zwei damalige beste Freundinnen eingeleitet, wo sich auch am Ende heraus stelle das die es auch wirklich waren.
Meine Eltern haben zu dem Zeitpunkt meine Narben gesehen und meine Wunden und mich zu einem Psychologen geschickt. Zu dem ich mal abgesehen davon kein gutes Verhältnis hatte.
Mit 16 Jahren, verliess ich dann die Schule mit einem Realschulabschluss.
Zu dem Zeitpunkt waren es 6/7 Jahre wo ich mich schon geritzt habe.
Habe dann eine Ausbildung angefangen, die ich im ersten Jahr bei Edeka angefangen habe und dann das zweite Jahr bei Rewe beendet habe. In dieser Zeit hatte ich viele Probleme auf der Arbeit, welche wieder mit Mobbing und Verleumdung angefangen haben.
Dann am 5.11.2017 war das schlimmste Erlebnis in meinem Leben.
Meine 25 Jahre alte Schwester starb an Leukämie und Nieren versagen.
Ich muss anmerken, meine Schwester war geistig behindert seit ihrer Geburt und auch blind seit ihrer Geburt. Damals der Arzt sagte zu meinen Eltern, sie wird nie älter als 19 Jahre.
Ich hatte einen sehr innigen Draht zu meiner Schwester. Das schlimmste ist einfach, dass sie nicht von alleine starb, sondern meine Eltern sich dazu entschieden haben die Beatmungsgeräte abzuschalten, die sie am Leben hielten. Meine Eltern, mein Bruder und ich waren in dem Raum und sahen zu wie sie die Geräte abstellten. Das war der heftigste Schlag in mein Gesicht.
Am 25.11 war dann die Beerdigung, alle waren sie da, die ganze Familie. Wir haben sie in der Natur beerdigt, unter einem Baum wo mehrere Leute liegen, denn sie war jemand der gerne unter mehreren Leuten war.
Auf der Trauerfeier danach wurde ich vom Kranwagen abgeholt weil ich nicht mehr leben wollte, mir stieg alles zu Kopf.
9 Tage später starb dann mein Opa und 3 Tage nach meinem Opa starb meine Oma.
Jetzt ist es über ein Jahr her, dass meine Schwester starb, seit fast 9 Jahren verletzte ich mich selber, weil ich nicht mehr weis was ich machen soll.
Seit Dezember 2018 habe ich Ängste schlafen zu gehen, immer und immer wieder sehe ich wie meine Schwester stirbt, wie ihr Herz langsam aufhört zu schlagen.
Ich musste mir illegal Schlaftabletten besorgen, weil ich nicht länger als 4 std schlafe in der Woche.
Immer wenn ich meine Augen schließe, träume ich ein und das Seine Erlebnis mit meiner Schwester. Ich habe Angst die Augen zu schließen.
Ich denke jetzt seit einiger Zeit daran, mich einweisen zu lassen, doch was sage ich meinen Eltern. Ihnen davon zu erzählen wird sie zerstören.
Ich kann so nicht mehr weiter machen. Ich habe niemanden zum Reden und deshalb wende ich mich anonym an Sie.
Ich will diese Last nicht mehr ertragen, ich kann das nicht mehr!

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

mit Sicherheit wirst du nicht mehr mit einer Antwort gerechnet haben. Das tut mir sehr leid und liegt ausschließlich daran, dass wir einfach zu wenige sind, um allen Anfragen gerecht zu werden. Doch hoffe ich, dass es dir inzwischen besser geht, und dass ich - falls das nicht so sein sollte - dir vielleicht noch immer ein bisschen helfen kann. Solltest du dich entscheiden, uns wieder zu schreiben, verspreche ich schnellere Reaktion!

Zunächst: Es tut mir von Herzen leid, was dir an Schicksalsschlägen widerfahren ist. Was du erleben musstest, wünscht man niemandem. Doch wenn man sich vor Augen führt, wie schwer dir das Leben gemacht wurde - und immer noch wird! -, und wie viele Umstände dich belastet haben, auf die du gar keinen Einfluss hattest (wie zum Beispiel die schwere Krankheit deiner Schwester), dann, ich muss es sagen, gewinnt man den Eindruck, dass du viel stärker bist, als du selbst annimmst. Nicht nur hast du es geschafft, die Dinge, die letztlich unvermeidlich waren, zu akzeptieren - wie etwa, dass deine Schwester niemals alt werden würde -, sondern du hast dir dabei auch noch etwas geschaffen, du hast einen Schulabschluss gemacht, der sich sehen lassen kann, du hast eine Ausbildung gemacht. Kurz und gut: Auch wenn dir die ganze Umwelt immer zu sagen scheint, wie nutzlos und hässlich du angeblich bist, liebe Anonyme - du bist es nicht! Schon allein deshalb nicht, weil du nie aufgegeben hast, weil du gekämpft hast, weil du immer weiter gemacht hast und dein Leben im Griff hast: Du hast einen Job und einen Beruf. Jetzt geht es darum, auch deine Persönlichkeit und dein Seelenleben in sicheres Fahrwasser zu bringen.

Dein ganzes Leben lang ist dir von irgendjemandem - seien es Mitschüler, "Freunde", Kollegen oder Fremde - vermittelt worden, dass du nichts könntest und nichts wärest. Nicht hübsch, nicht fähig, nicht klug, nicht passend, nicht cool, kurz - kein gleichwertiger Mensch. Du bist beschimpft, herumgestoßen und getreten worden, dir ist Gewalt angetan worden und man hat dir den Tod gewünscht - schon in jungem Alter hast du diese Aggression, die dir überall widerfahren ist, gegen dich selbst gerichtet und begonnen, dich zu verletzen. Und doch, liebe Anonyme: Hättest du den Kampf weitergekämpft, hättest du es immer wieder ausgehalten, wenn irgendein Teil von dir, tief drinnen, nicht stets geflüstert hätte, dass es mehr gibt? Dass da draußen noch irgendwo ein Leben ist, schöner und heller als dein jetziges, das auf dich wartet, und das du erreichen willst? Im Augenblick ist in dir und um dich alles düster, du möchtest am liebsten nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen... der Tod macht das Leben leicht, so scheint es. Aber was hieße das wirklich? Hieße es nicht, dass du allen Menschen, dir dich je gequält haben, damit Recht geben würdest? Hieße das nicht, ihnen den Willen zu tun und eine Welt zu schaffen, in der sie ohne dich sein können - so, wie es anscheinend immer schon ihr Wunsch war? Willst du ihnen diesen Wunsch wirklich erfüllen? Oder willst du nicht viel lieber eines Tages auf sie herab schauen, überlegen, weil du dich nach oben gekämpft hast und ein glückliches Leben führst? Vielleicht sagst du, dass du mit deinem Abtreten ihnen zeigen willst, was sie falsch gemacht haben, wie übel sie sich verhalten haben. Aber macht das wirklich Sinn? Wer sich von deinen Tränen, deinem Blut und deinen Narben nicht hat rühren lassen, der wird auch von deinem Tod nicht gerührt sein. Aber du wirst dann nicht mehr da sein. Und das ist das Allerschlimmste: Der Tod ist nie eine Option. Denn wir wissen nicht, was hinter der großen Dunkelheit liegt. Und da wir genauso wenig wissen, was ein Weiterleben uns bieten könnte, und ob es nicht vielleicht etwas sehr Gutes wäre, stellt sich doch die Frage, warum nicht besser weiterleben. Ich möchte dich ermutigen, liebe Anonyme: Die Dunkelheit in dir selbst drängt, sich mit der großen jenseitigen Dunkelheit zu vereinigen. Gib ihrem Drängen nicht nach! Sie täuscht dich! Denn jenseits liegt keine Erleichterung, sondern nur Ungewissheit. Und wenn wir sterben - was wir alle eines Tages müssen - dann ist es richtig, das in dem Wissen zu tun, alles getan zu haben. Du hast bereits unfassbar viel getan: Du hast gekämpft, du hast gelitten, du hast gestrauchelt und geschwankt, und hast deinen Weg trotzdem fortgesetzt. Willst du jetzt, nachdem du solange gekämpft hast, letztlich einfach sagen, dass alles umsonst war? Soll es für dich kein Ziel geben? Ich finde, das sollte es. Denn du hast es verdient. Und schon deshalb muss es weitergehen. Was du verdient hast, kannst du fordern; was du fordern kannst, kannst du erhalten; was du erhalten kannst, kannst du genießen, und du darfst auch. Und ich bin sicher, dass du es kannst. Trau dich, den Gedanken daran zuzulassen. Ich glaube an dich.

Und nicht nur ich bin es, der dich bittet, weiterzumachen: Glaubst du denn nicht, dass auch deine Schwester und deine verstorbenen Großeltern wollen würden, dass du weitermachst? Was denkst du, wie deine Schwester sich entscheiden würde, der es nie wirklich vergönnt war, zu leben? In ihrem Fall waren es gesundheitliche Probleme. Sie waren nicht heilbar. In deinem Fall sind es die Menschen, mit denen dich das Leben zusammengewürfelt hat, die dich quälen, und die die dunkle Nacht deiner Seele erzeugen. Im Gegensatz zu einer tödlichen Krankheit ist diese dunkle Nacht überwindbar. Ich habe großen Respekt vor aller Kraft, allem Mut und aller Ausdauer, die du bereits dein ganzes Leben lang aufgewendet hast, um einfach nur den nächsten Tag zu überstehen: Dies alles zeigt, dass du viele positive Eigenschaften hast, die nicht ungenutzt bleiben sollten. Du bist offensichtlich eine Person von großer Willenskraft, von großem Mitgefühl und großer Belastbarkeit. All diese guten Eigenschaften rufen danach, nicht nur eingesetzt zu werden, um zu überleben, sondern um sie der Welt zu widmen und das Leben für dich und andere schöner zu machen, für Menschen, die du liebst, oder noch lieben lernen wirst. Dir wären durch die Natur diese vielen wunderbaren Züge nicht gegeben worden, wenn es dir nicht bestimmt wäre, einen Weg zu gehen, der mehr ist als nur Leiden. Sondern auch Glück. Ein Glück für dich und andere Menschen. Vielleicht war alles Leid ja überhaupt nur zu dem Zweck da, dir zu zeigen, wie hart das Leben sein kann - und wie du an dem Schmerz um deine verstorbenen Verwandten sehen kannst, hat dieses Leiden dein Herz nicht verhärtet, sondern du bist eine junge Frau von tiefem Mitgefühl, tiefer Güte und tiefer Einfühlsamkeit geworden. Ich bitte dich inständig - wirf das nicht weg, sondern richte den Blick zur Sonne und träume. Denn deine Träume können wahr werden.

Beginne klein: Was stört dich in deiner unmittelbaren Umgebung? Wolltest du schon immer mal eine neue Wandfarbe? Einen anderen Schrank? Weißt du nicht, was du eigentlich mit deinen Topfpflanzen anfangen sollst? Haben sich zu viele Gegenstände um dich herum angesammelt, die dich nicht mehr befriedigen, die dich sogar beeinträchtigen? Dann befreie dich von ihnen. Lass Licht in deine vier Wände, und lass vor allem Licht und Luft in und an deinen Körper. Wenn deine Arbeit dich nicht genug anstrengt, um in den Schlaf zu kommen, dann sind Pillen das ungünstigste Mittel, um dir zu helfen: Denn über kurz oder lang führt das nicht nur dazu, dass du den Kontakt zu deinem Körper verlierst (du weißt nicht mehr, wann du wirklich müde, wirklich hungrig bist), sondern es steht auch immer die Gefahr einer Abhängigkeit im Raum. Daher - es hilft nichts: Wenn du nicht schlafen kannst, musst du dich auspowern. Vielleicht musst du nach der Arbeit noch eine Stunde joggen gehen, oder du gehst schwimmen (du kannst auf einen Neoprenanzug zurückgreifen, wenn du, was ja mehr als verständlich ist, deine Narben nicht zeigen magst). Suche aber auch den Kontakt zur Natur: Geh ein Stück durch den Wald, begib dich an einen Ort, an dem kein anderer Mensch in der Nähe ist, und erlebe, wie deine Sinne geschärft werden durch die Einsamkeit, wie du jedes Geräusch, jeden knackenden Ast, jedes Vogelzwitschern intensiv hörst und aufschreckst. Lass deine Hände nicht immer nur dasselbe tun - sondern lass sie verschieden Dinge fühlen, ihren Kontakt zur Welt ertasten: Knete einen Brotteig und setze Blumenzwiebeln, mach dich schmutzig und schaff dir einen Anlass, dich zu pflegen: Mit einem neuen Shampoo, einer neuen Handlotion, mit neuen Fingernägeln. Du bist schön, liebe Anonyme - lass es die Welt wissen. Deine Narben sind keine Schandmale, sondern sie sind Auszeichnungen deines Lebens, dafür, dass du mehr ertragen hast, als unzählige andere Menschen sich überhaupt vorstellen können. Gönn dir etwas. Zeig dich in einer neuen Bluse, mit einer neuen Haarfarbe, oder, wenn du auf all sowas keine Lust hast, erlaube dir, mal ein paar Tage ungewaschen zu sein. Verstell dich nicht, sondern nimm nur die Dinge mit, die dir Gewinn verschaffen - prüfe alles darauf, ob du es wirklich möchtest, wirklich Lust und Interesse hast, oder ob du es nur tust, weil jemand anders es verlangt. Die Menschen, die deine wirklichen Freunde, Partner oder Weggefährten sein können, werden nicht nach einer Frau Ausschau halten, die ist wie viele, sondern die besonders ist. Und das bist du. Du musst dir aber selbst wieder beibringen, als einzigartiger Mensch zu leben. Fülle deine Zeit mit Aktivitäten, die dir etwas geben können - und lass nicht zu, dass sich leere, weggeworfene Zeit in deinem Leben anhäuft. Denn je mehr du in Tatenlosigkeit erstarrst, desto frustrierter bist du, und desto schwerer wird es, den Lebenswillen zurückzugewinnen. Es wird nicht leicht sein, das behaupte ich auch nicht; aber es der einzige Weg. Und wenn du den ersten Schritt gewagt hast, ergeben sich vielleicht schon weitere. Habe den Mut, wieder Wünsche zu formulieren, und nicht nur in Pflichten und Anforderungen zu denken: Gibt es etwas, das du unbedingt im Leben erlebt haben willst - eine Reise? Deine Hochzeit? Ein bestimmtes Restaurant zu besuchen? Eine bestimmte Farbe zu tragen? Arbeite darauf hin. Arbeite daran, dir deine Persönlichkeit wieder zu erschließen, denn seit langer Zeit hast du nur funktioniert. Das ist kein Leben, sondern das ist eine Maschine. Und ein Mensch braucht ein Ziel. Was ist deines? Nur du selbst kannst es wissen. Aber ich bin mir sicher, dass da irgendwann mal etwas war. Es muss erst ausgegraben und wieder an seinen Platz gesetzt werden: Unter die Dinge, die dir Richtung geben. Denk an deine Schwester, denk an deine Großeltern: Wie viel hätten sie tun wollen, was sie nie konnten? Du kannst sie nicht zurückhaben, nicht in diesem Erdenleben. Aber du kannst ihre Träume für sie leben und sie dadurch ehren, du kannst ihre Träume zu deinen machen, und sie dadurch ewig am Leben erhalten. Und vor allem: Dich selbst.

Dann ist da noch der Gedanke der Einweisung. Ich sage dir offen und ehrlich: Ja, er ist vernünftig. Genauso verständlich ist deine Sorge, dass deine Eltern darüber entsetzt sein könnten. Aber vergiss dabei nicht: Sie haben vor Kurzem eine Tochter verloren. Was glaubst du, was ihnen nun lieber wäre? Dass auch ihre andere Tochter langsam dahinschwindet, wie ein Blatt im Herbst, wie ein Bach im Winter? Vertrocknet, zu Eis erstarrt? Oder dass sie kämpft, daran arbeitet, wieder mit anderen Menschen Mensch zu sein? Im Augenblick wird das Leben deiner Eltern voller Schmerz sein. Dafür kannst du nichts. Du hast dir nicht ausgesucht, die Schwester einer todkranken jungen Frau zu sein, deren Leiden jetzt ein Ende gefunden hat. Du hast eine Verantwortung genauso für dich selbst wie für deine Eltern - und in eine Klinik zu gehen, ist eine sehr verantwortungsvolle Handlung, die nur zeigt, wie klar und überlegt du bist. Freilich mag es sein, dass deine Eltern aufgrund ihrer Erschöpfung und auch deswegen, weil sie anders aufgewachsen sind, damit nicht so gut umgehen können. Aber du bleibst trotzdem ihre Tochter, und du tust es genauso für sie wie für dich. Wenn du jetzt gerade nicht für sie da sein kannst, weil du keine Kraft mehr hast, dann ist es nur gut, wenn du dir Hilfe suchst. Und ich bin sehr beruhigt, weil du diesen Gedanken hast. Es gibt letztendlich keinen optimalen Weg, es deinen Eltern zu sagen. Deshalb rate ich dir zu völliger Ehrlichkeit. Sie werden fraglos nicht gerne hören "Mama, Papa, ich bin so am Boden zerstört, dass ich darüber nachdenke, mich in psychiatrische Behandlung zu begeben", und vielleicht das Ganze auch nicht wollen. Doch du weißt, dass es sinnvoll ist. Wenn du diese Möglichkeit bekommst - schließlich sind Plätze rar - nimm sie wahr. Denn hier geht es nicht darum, dein Leben abzuschließen, ein Scheitern anzuerkennen. Sondern um das genaue Gegenteil: Zu kämpfen, neu aufzubauen. Und ich bin denke, im tiefsten Herzensgrund werden auch deine Eltern das verstehen.

Ich wünsche dir vor allem eines: Mehr Selbstliebe! Denn du hast unendliche Fähigkeiten, zu fühlen, unendliche Fähigkeiten, Lasten zu tragen. Das hast du bewiesen. Nun musst du einsehen, dass es nur noch aufwärts gehen kann, wenn es nicht enden soll. Du ergreifst die Handlungen, die nötig sind - auch wenn sie schwer sind. Das darf dich stolz machen. Es geht um dich - und das ist nicht selbstsüchtig, sondern es ist nur recht und billig. Und es gilt deinem eigenen Glück genauso wie dem Andenken deiner Lieben. Sie wären gewiss sehr stolz auf dich.

Wenn du glaubst, dass dir dieses Gesprächsangebot hilft (so viel Zeit wir auch leider haben verstreichen lassen - so sorry!), darfst du dich gerne wieder melden. Ich würde mich freuen, von dir zu hören, und werde diesmal bestimmt schneller zurückschreiben.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul