Problem von Stefan - 50 Jahre

Ich empfinde keine Lebensfreude mehr

Hallo,

ich habe seit Juli 2001 die Diagnose MS und leide zusätzlich seit Juni 2010 unter Depressionen, nachdem sich meine Frau, die Liebe meines Lebens, wegen eines anderen Mannes von mir getrennt hatte. Wir waren da 9 Jahre verheiratet, 12 Jahre zusammen, hatten unser Traumhaus gebaut, wollten 1 oder 2 Kinder und haben noch einen Versuch mit einer künstlichen Befruchtung gestartet, nachdem Ende 2009 bei mir festgestellt wurde, dass ich auf natürlichem Weg keine Kinder zeugen kann.
Meine Ex-Frau heiratete den anderen Mann und bekam 2013 "meinen Wunschsohn" mit ihm.
Ich nehme seit 2010 Antidepressiva, hatte 2 Psychotherapien und eine Kur, bin seit Juli 2019 aus gesundheitlichen Gründen im Ruhestand, habe also keinen beruflichen Stress mehr.
Bin fast durchgehend traurig, baue körperlich mehr und mehr ab, habe Angst vor dem Rollstuhl und denke oft über einen Suizid nach, solange ich es noch eigenständig kann.
Ich sehne mich danach, meinen Seelenfrieden zu finden und glaube mehr und mehr, dass ich diesen nur durch den ewigen Schlaf finden kann.
Egal was ich tue, ich komme über die Trennung nicht hinweg und die voranschreitende Krankheit MS tut ihr Übriges.

Danke fürs Zuhören
LG
Stefan

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Stefan,

das klingt sehr hart und ich möchte dich zumindest virtuell mal fest drücken.
Du scheinst dich aktuell mehr nach dem Tod als nach dem Leben zu sehnen. Das kann ich einerseits nachempfinden, andererseits ist es mir ein sehr großes Anliegen, dir ein paar hoffnungsstimmende Gedanken mitzugeben.
Beginnen möchte ich damit, dass du viele Jahre nach der Trennung durchgehalten hast. Sicher magst du jetzt einwenden, dass dies mehr schlecht als recht gewesen sei, doch ich möchte dich ermutigen, dir eines vorzustellen: Dass du trotz chronischer Krankheit und Trennung sehr viel erreichen und schaffen kannst! Es geht nicht nur um das bloße Existieren. Niemand soll vor sich hinvegetieren und sich dabei von dieser Welt wegwünschen müssen. Die große Frage ist: Wie kann ein erfülltes Leben gelingen? Und hier möchte ich dir versichern, kann wirklich jede Person im Rahmen der gegebenen Grenzen und Optionen sehr viel für sich herausholen, was ich dir gerne im Folgenden beschreiben möchte.

Das Eine ist, nicht mehr in der Vergangenheit zu hängen. Klingt zunächst einfach, ist es aber leider nicht (sofort). Ich versuche mich an einer Erklärung: Du schreibst, dass du bis heute nicht über die Trennung hinweggekommen bist. Und das glaube ich dir absolut. Hier müsste eine Aufarbeitung erfolgen, weil du sehr wahrscheinlich sehr stark erschüttert und in deinem Grundvertrauen verletzt wurdest. Zur psychologischen Begleitung komme ich dann noch.
Mit "in der Vergangenheit hängen" meine ich, dass du dich im Alltag davon vereinnahmen lässt und das, was längst abgeschlossen ist, noch tägliche negative Auswirkungen auf dein Gefühlsleben und dein Verhalten/Handeln hat. Und das zermürbt dich. Es lähmt dich.
Es wäre ganz toll, wenn du versuchen würdest, das Vergangenen nach und nach dort zu lassen, wo es eben hingehört. Es ist nicht die Gegenwart! In der Gegenwart kannst du trotz MS sehr viel für dich tun, um dich besser zu fühlen und dich seelisch zu nähren. Nur braucht es dafür das Bewusstsein - das Bewusstsein, dass du im Hier und jetzt einfach zufrieden und sogar auch mal richtig glücklich sein kannst! Ja, du darfst dir selbst die Erlaubnis geben, zu genießen, Momente der Ruhe, der Ausgeglichenheit und der Freude zu spüren. Deine Frau hat dich verlassen, das ist Fakt. Dennoch ist es strikt von DIR zu trennen! Es ist NICHT dein Leben - es ist lediglich ein Puzzleteil, eine prägende Erfahrung. Und deswegen kannst du diese auch als gemacht ansehen und dich neuen Erfahrungen zuwenden.
Wir Menschen glauben häufig, wir seien klein und machtlos und sobald wir Enttäuschungen, Rückschläge und schlimme Erfahrungen machen mussten, sei es für immer vorbei mit dem schönen Leben. Aber das ist nichts weiter als eine extrem fiese Verzerrung der Realität! Du kannst lernen, deine Vergangenheit in deine Biographie einzubauen, in der es Höhen und Tiefen gegeben hat und noch geben wird. Akzeptieren lernen, was einmal war - und was in der Gegenwart ist.
Du kannst dich aktiv dafür entscheiden, auch das Positive wahrzunehmen. Du bist kein Spielball im riesigen Ozean, sondern du hast einen gewaltigen Gestaltungsspielraum, den du auf jeden Fall nutzen solltest! Sieh deine Erfahrungen als Herausforderungen, nicht als für immer bedrückende Probleme. Und ja, mit MS zu leben ist schon eine große Hausnummer, da kannst du dir zunächst einmal einen fetten Schulterklopfer verpassen und ganz stolz auf dich sein, dass du dich nicht einfach aufgegeben hast. Du hast stattdessen ehrlich erkannt, dass du Hilfe benötigst und uns geschrieben.

Und eine sehr wesentliche Sache, besonders bei chronischen Krankheiten, Behinderungen und anderen einschneidenden Beeinträchtigungen ist das soziale Netzwerk. Wir alle brauchen Menschen, die uns beistehen, zuhören, mit denen wir Interessen teilen und uns intim mitteilen können. Wir brauchen verschiedene Beziehungen, egal ob in der Verwandtschaft, im Freund:innenkreis, im Arbeitsleben oder in der Nachbar:innenschaft. Daher wäre ein großer Punkt, dass du dich sehr gezielt an verschiedene soziale Gruppen wenden würdest:
* Allen voran psychotherapeutische und/oder psychiatrische Hilfe in einer Klinik oder ambulant; auch eine pschologische Beratungsstelle kann super sein!
* Vielleicht gibt es bei dir in der Nähe Alltagsbegleiter:innen - manche machen das auch ehrenamtlich (z.B. über einen Tauschring)
* Wahrnehmen von Freizeitbeschäftigungen, Hobbys mit Gleichgesinnten
* Enger Austausch mit anderen MS-Betroffenen (Foren, Online-Gruppen, Selbsthilfegruppen, Gesprächskreise,....)
* Teilnahme an sozialen Angeboten in deiner Umgebung, z.B. in einem Nachbarschaftscafé, Begegnungscafé, Brunch, Ausflüge...
* (Wieder)beleben von früheren Kontakten, die dir eigentlich gut getan haben
* Einfach mal mit der Familie über das Bedrückende sprechen

--> Igele dich bitte nicht ein, sondern gehe aktiv auf deine Mitmenschen zu! Hier kannst du sehr viel rausholen, wenn du dich bewusst für eine positive Veränderung entscheidest. Dein Wille ist dein Werkzeug! Wenn du erstmal sozial aufgefangen bist, wird es deutlich einfacher werden, die einzelnen inneren "Baustellen" anzugehen und sich mehr und mehr zu kräftigen. Es geht letztlich auch um die Sinnfrage: Bin ich ein Teil eines großen Ganzen? Bin ich Teil einer harmonischen Gemeinschaft? Vielleicht würdest du auch Halt in einer religiösen oder spirituellen Gruppe finden (solange es kein Sekte ist). Es bringt schon viel, ein-bis zweimal pro Woche in einen Verein zu gehen und dadurch regelmäßig die gleichen Menschen zu treffen. Auch ein Ehrenamt bringt nicht nur neuen Sinn und Freude, sondern schafft neuen sozialen Austausch. Guck mal hier: https://ehrenamtcheck.de/
Und ja, auch mit körperlichen und psychischen Einschränkungen ist noch einiges drin!

Sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen ist immer gut - egal ob man krank ist oder nicht. Mir scheint, du könntest da auf konstruktive Weise für dich schauen, wie du mit Sterben und Tod umgehen kannst, ohne gleich in das Extrem der Sinnlosigkeit zu verfallen (und ja, sofern du wirklich depressiv sein solltest, ist das auch krankheitsbedingt, doch bist du trotzdem nicht gänzlich ausgeliefert). Wir haben es gesellschaftlich verlernt, unsere Endlichkeit anzuerkennen. Ein gelassener Umgang damit wäre fein. Umso wertvoller kann die noch verfügbare Lebenszeit erscheinen. Bestimmt hast auch du noch alte Träume und Wünsche, die du genau jetzt reaktivieren kannst :)

Lieber Stefan, ich würde dich sehr bitten, dir den psychologischen Beistand zu holen, den ich genannt habe. Das wäre ein Anfang - und so könntest du es nach und nach schaffen, dich selbst aus dem Sumpf der Niedergeschlagenheit und Resignation zu ziehen. Sehr gerne kannst du dich auch wieder an uns wenden. Schreiben hilft übrigens auch sehr - ich empfehle Tagebücher! Hier ein aktueller Artikel zu einer bestimmten Tagebuchtechnik: https://www.geo.de/wissen/gesundheit/22678-rtkl-schwarz-weiss-tagebuch-mit-einem-einfachen-trick-sehen-sie-vieles?utm_source=pocket-newtab

Speziell zu MS habe ich noch die folgenden Internetseiten entdeckt, möglicherweise kennst du sie noch nicht:
* https://www.amsel.de/ --> mit Extrabereich "Beratung"!
* https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-forum/
* https://www.aktiv-mit-ms.de/
* https://www.multiple-sklerose-forum.de/index.php?board-list/
Zu deiner Trauer nach der Trennung deiner damaligen Frau wären vielleicht die folgenden Foren/Internetseiten lesenswert für dich (es gibt noch so viel mehr):
* https://www.wielandstolzenburg.de/die-4-phasen-nach-einer-trennung-und-was-am-ende-am-meisten-hilft/
* https://herz-mut.com/trennungsphasen/
* http://www.trauer-verlust-forum.de/?s=6814c7ab72e4427a579722ab3bb333da733ddf92

Übrigens hatte uns vor einer Weile folgendes Feedback erreicht, das vielleicht auch dir zugute kommt: https://mein-kummerkasten.de/332237/Hilfe-zur-Bewaeltigung-von-Trauer-und-Depression-Meine-Taktik.html
Viele weitere ermutigende Beiträge findest du hier im Archiv.

Ich wünsche dir ganz viel Kraft für die nächste Zeit, alles Liebe und sende dir viele Grüße!
Nuala