Problem von Annie - 30 Jahre

Mobbing - Ich realisiere immer mehr was damals mit mir passiert ist

Guten Tag liebes Kuka-Team, ich habe momentan sehr viele Flashbacks an der damaligen schlimmen Zeit und leider auch so starke negative Gefühle wie sie fast schon damals waren. Ich weiß nicht, warum diese Erinnerungen, die doch zum Teil verdrängt waren, so kristalklar wieder hochkommen und ich Gefühle von Wertlosigkeit, Selbsthass und auch Wut verspüre.

Das Problem meiner Vergangenheit, was meine Gegenwart beeinflusst ist folgendes:
Ich wurde damals in der Oberschule 4 Jahre lang gemobbt von meiner Klasse, von den Parallelklassen und von den anderen Klassen (gesamte Schule). Ich bin und war leider sehr schüchtern schon seit ich ganz klein war. Vermutlich aufgrund von emotionaler Vernachlässigung wie es mir später beim Therapeuten gesagt wurde. Jedenfalls hatte ich kein Selbstbewusstsein und war auch in der geistigen Entwicklung sehr verzögert. In der Grundschule ging es dann aufwärts, ich habe Freunde gefunden und gehörte auch sogar zu den besten Schülern in der Klasse. Dann zogen wir als Familie um, und ich kam in einer neuen Schule 2. Halbjahr 7.Klasse. Es war eine Dorfschule, wo sich die meisten schon offenbar von der Grundschule an kannten. Jedenfalls wurde ich durch die Pupertät vom süßen Mädchen zum hässlichen Entlein, mit Pickel, einem hässlichen Gesicht, jedenfalls wurde ich immer als hässlich bezeichnet und durch eine Hormonstörung Pcos hatte ich leider auch mehr Haare wodurch auch zum Gespött wurde. Auch war ich anders, hatte nicht die gleichen Interessen wie die anderen. Mir wird jetzt immer mehr bewusst, was mit mir passiert ist. Hier ein paar Beispiele: Mir wurde versucht die Hose runterzuziehen als ich mich wehrte und den Lehrer es auch sagte, wurde mir auf dem Nachauseweg gedroht, von plötzlich mehreren Personen, ich wurde fast von der ganzen Klasse, wenn der Lehrer nicht da war mit Essen beworfen, mir wurde mein Eigentum kaputt gemacht, ich wurde als blöd und hässlich, als Schlampe usw. regelmäßig beschimpft, als eine Täterin neben mir zu Strafe gesetzt wurde hat sie ganz laut zu mir gesagt, dass ich sie bloß nicht ansehen soll, im WAT Unterricht wurde mein Essen mit Fit versaut, ich wurde auch beim WAT Unterricht öffentlich vor der Klasse und Nebenklasse bedroht (diesmal war es statt kochen, handwerken). Auch im WAT Unterricht wurde mir zwischen den Beinen gefasst und es wurde gelacht und mich gefragt, ob das geil war, ich wurde bespuckt, ein Junge aus der Parallelklasse sagte zu meinem Bruder, der eine Klasse unter mir war, dass wenn er so eine Schwester wie mich hätte sich umbringen würde, von zwei größerern Jungs wurde ich bedroht und wurde auch wieder vor vielen Schülern gesagt, dass so jemand wie ich es bin in die Klapse, eingesperrt gehört. Wohl gemerkt ich habe denen nie etwas getan, sondern bin immer mehr zerbrochen bis ich mich gar nicht mehr gewehrt habe, weil ich so große Angst hatte, dass diese Tortur noch schlimmer wird. Wehren hat ja damals nicht geholfen und es ja wirklich schlimmer gemacht. Es gab bestimmt noch viel mehr. Ich habe auch versucht, da ich keine Hilfe von Familie, noch Lehrer bekam, mich umzubringen. Ich habe meine Eltern darum gebeten damals die Schule zu wechseln, aber mein Vater sagte nur, dass es ja an mir liegen muss, das ich durchhalten soll. Bei mir wurde inzwischen eine ävps diagnostiziert. Auch im Raum stand, dass ich Asperger-Autistmus habe, aber das kann auch nur ähnlich sein, da ich ja emotional vernachlässigt wurde und deshalb schwierigeiten habe Gefühle zu zeigen, Nähe zuzulassen.

ich habe trotz meines (Traumas?) einen Beruf und einen Partner an meiner Seite. Wir wollen sogar eine Familie gründen. Auch meine Schüchternheit ist nicht mehr so schlimm wie damals, auch wenn ich ein lebenlang daran arbeiten muss. Aber momentan habe ich diese schlimmen Flashbacks. Ich habe einen Selbsthass, dass ich nicht anders war oder mich nicht genug wehren konnte. Ich habe einen Hass auf diese Verbrecher, die mich so stark schikaniert haben. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt in der Lage bin, eine gute Mutter zu werden. Ich weiß nicht, ob ich eine von den Peinigern (da könnte ich Kontakt aufnehmen) auf Ihr damaliges Verhalten ansprechen, oder ob ich das besser lassen soll. Ich verstehe nicht, warum man einen einzelnen Menschen so quälen muss. Tut mir Leid für den langen Text, der auch sehr wirr ist. Ich bin sehr emotional aufgewühlt. Ich bedanke mich für eure Antworten!

Adriano Anwort von Adriano

Liebe Annie,

zunächst einmal möchten wir uns herzlich für dein entgegengebrachtes Vertrauen bedanken, denn deine Zusendung beschreibt ein offensichtlich sehr intimes und sehr schmerzhaftes Kapitel in deinem Leben, das ganz offenkundig auch bis heute noch nicht für dich abgeschlossen ist. Wofür ich vollstes Verständnis habe!

Um gleich mal das Wichtigste voranzustellen: am liebsten würde ich dir nun eine dicke Umarmung geben! Ich habe mir auch deine Schilderung zwei Mal durchgelesen, wie ich es i.d.R. immer tue, und bin im Ergebnis erschüttert, mitfühlend, aber auch stark beeindruckt von deinem Mut, Willen und deiner Stärke, an solche Erfahrungen bis heute erinnert zu werden, sie aber auch zu verarbeiten, den Flashbacks zu widerstehen und dich anderen, wie beispielsweise uns, anzuvertrauen. Es wird meiner Meinung nach nämlich oft übersehen, dass allein das Sprechen über traumatisierende Erfahrungen bereits eine enorme Willenskraft an Überwindung benötigt. Ich möchte an dieser Stelle schon einmal nichts anderes als ein ganz großes Kompliment an dich richten!

Das Zweitwichtigste, was ich dir sagen muss, klingt zunächst einmal sehr bieder und formell, doch ich denke du wirst verstehen, dass ich es sagen muss: unsere Gedanken, Meinungen oder Ratschläge ersetzen keine Unterstützung von Therapeuten und Psychologen, wenngleich ich ahne, dass du genau deshalb uns geschrieben hast - weil man manchmal eben auch solche Meinungen und Gedanken braucht. Nicht von professionellen Stellen also, sondern von ganz "normalen" Menschen, die weniger in analytischer Herangehensweise zuhören (und antworten). Ich habe gelesen, dass du bereits in therapeutischer Behandlung warst oder bist - was selbstverständlich eine sehr vorbildliche und gut getroffene Entscheidung von dir war!

Deine Erzählungen und Schilderungen, deine ganz persönliche Geschichte also, ist nichts Geringeres als traumatisch, schmerzhaft und erschreckend. Diese Adjektive gelten jedoch in keinster Weise die deiner Figur, sondern allen, die dir dieses unermesslich große Leid zugefügt haben. Das einzige Adjektiv, das meiner Wahrnehmung nach allein dir gilt, ist: stark!

Ich ahne, was du nun höchstwahrscheinlich denken könntest. "Ich fühle mich nicht stark. Ich hasse mich, ich habe mich nämlich nicht gewehrt. Hast du nicht gelesen, was ich geschrieben habe, wie ich mich selbst sehe?" Und hier mein klares: doch, das habe ich! Und du BIST stark, bärenstark!

Du darfst NICHT dem trügerischen und gefährlichen Gedanken erliegen, dass ein "sich wehren" nur aktive Handlungen gegenüber Sachen oder Personen sind. Denn hier spielt SO viel mehr hinein, als es allein darauf zu begrenzen wäre. Wie zum Beispiel: das Alter, die innere Reife, Ängste, Gefahren, andere äußere Dynamiken, eigene Erfahrungen, eigene noch NICHT gemachte Erfahrungen, aber auch definitiv zu benennende Faktoren wie Hilfe von Dritten, die nicht gewährt wird.

Nein, nein, Annie - du hast dich gewehrt! Du hast dein Innerstes, also alles, was du damals überhaupt erst aufbringen konntest als Kind/Jugendliche, aufgewendet und dich aufrecht gehalten! Das IST etwas Aktives, das IST ein "sich wehren". Nämlich das innerliche und nach außen zu sehende zur Wehr setzen, sich nicht aufzugeben. Nicht nur sich als Person. Sondern alles an und in sich. Liebe, Gefühle, Wünsche, Träume, Mut, Willen und Hoffnung.

Liebe für sich selbst und für andere, wie beispielsweise heute für deinen Partner und eurem Kind in Zukunft. Gefühle für sich selbst und Wünsche, die man hegt und nicht verliert, für die du Energie aufgebracht hast. Energie dafür, sie allein schon zu haben und sie weiterzuverfolgen. Träume, die dir schmerzten und Träume, die dich vielleicht auch aufbauten. Mut - Mut ist nicht allein das zur Wehr setzen nach außen. Mut ist auch das Aufstehen am Morgen, auch wenn man es nicht will oder manchmal nicht mal mehr kann - es aber trotzdem tut! Das ist DER Mut, der als erstes kommt. Quasi Mut, sich den Mut zu behalten. Und Hoffnung selbst ist unerlässlich, alles Genannte für sich zu haben.

Lass' es mich also ganz ausdrücklich sagen: Selbsthass ist völlig fehl am Platz! Wenngleich ich weiß, weil du es selbst schreibst, dass du damit meinst, dich nicht gewehrt zu haben oder nicht anders gewesen zu sein.

Aber, wie wäre es denn damit: wären doch die anderen anders gewesen! Warum das Gute sich anders wünschen, wenn doch die schlechten Menschen einfach anders, eben einfach "gut" hätten sein müssen?

Du hast dir selbst in meinen Augen überhaupt nichts zu verzeihen. Das hast du, wie ich vermute, viel zu lange schon versucht. Ohne, dass du es dir schuldig gewesen wärst. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Du hast alle Gründe, die ich finden kann, dir selbst und deinem früheren Selbst zu danken und dich dafür zu lieben, dass du Liebe, Gefühle, Wünsche, Träume, Mut, Willen und Hoffnung nie verloren oder aufgegeben hast!

Das ist eine ganz beachtliche Leistung! Die mich persönlich im Übrigen sicher darin sein lässt, dass du eine gute, eine hervorragende Mutter sein wirst.


Zu deiner Frage, ob du die Peiniger der Vergangenheit konfrontieren solltest: Ja! Das solltest Du.

Und du solltest dabei keine Rücksicht nehmen. Das einzige, worauf du dabei Rücksicht nehmen solltest, ist in meinen Augen allein der Zeitpunkt. Allein DU legst nämlich den Zeitpunkt dafür fest, was zunächst obligatorisch und sinnlos klingen mag, aber folgenden Hintergrund hat: dein inneres Ich sollte dafür den Punkt erreicht haben, dass dir nicht die Reaktion der Peiniger bedeutsam sein sollte. Denn die können mitunter unterschiedlich sein, von einsichtig, reumütig bis uneinsichtig. Je nachdem, wie sich die soziale Intelligenz derjenigen weiter-, oder eben zurückentwickelt haben wird.

Allein DIR gegenüber sollte das Ansprechen der Peiniger von Nutzen sein, unabhängig von ihrer Reaktion. Du solltest erst den Punkt erreicht haben zu wissen, dass die Reaktion der Peiniger eigentlich keine Rolle spielt. Jedenfalls nicht für dich. Sondern dass DEINE Reaktion auf die Peiniger von einst das ist, worum es hier tatsächlich geht. Dass du ihnen damit nämlich zeigst, wie schwach sie waren. Und wie stark du warst. Und es heute sogar noch mehr bist!


Fühl' dich ganz doll gedrückt, alles Liebe wünscht dir,
Adriano