Problem von Otto - 29 Jahre

Gefühl, alle sind besser als ich

Hallo!

Ich bin 29 Jahre alt und arbeite seit knapp 10 Jahren in einer Werkstatt für eingeschränkte Menschen.

Die Vorgeschichte:

Bei meiner Geburt(Frühgeburt) war ich sehr schwer krank, weil ich schweren Sauerstoffmangel hatte und lag fast ein Vierteljahr im Brutkasten.

Das Problem:

Meine Schwester, eine Cousine, ein Cousin haben Abitur, eine weitere Cousine steuert gerade drauf zu, und mein Bruder hat einen Realschulabschluss und abgeschlossene Lehre. Ich habe mich in der Schule wirklich reingehängt(Langzeitklasse 6 Jahre für den Stoff der Grundschule, normalerweise 4 Jahre), bin dann auf die Hauptschule gewechselt, habe auch den Abschluss geschafft, dann ein Jahr noch rangehängt, weil ich nicht wusste, was ich beruflich machen sollte, und bin dann in die Werkstatt für behinderte Menschen gewechselt.

Meine Schwester arbeitet in einer Bundesbehörde, meine Cousine als Managerin, mein Bruder hat als Mechatroniker gearbeitet, inzwischen arbeitet er bei einer Versicherung. Der Cousin ist Jurist.

Wichtig ist: Die anderen waren bei der Geburt gesund! Und in der Familie sieht mich NIEMAND als Versager an.

Aber mir schwirrt dies leider immer im Kopf herum und ich sehe mich selbst als Versager, was manchmal wirklich schrecklich ist .

Wie kann ich damit umgehen?

Gruß

Otto

Nuala Anwort von Nuala

Lieber Otto,

ich möchte betonen, auch wenn du es bestimmt selbst weißt: Man ist kein "besserer" Mensch, nur weil man studiert hat oder einen ganz bestimmten Beruf ausübt. Dieses Statusdenken ist leider tief verankert, doch zeigt sich an deinem Beispiel, wie hemmend und verunsichernd es wirken kann. Ich persönlich finde es sehr schade, dass wir im Allgemeinen so stark von Leistungs - und Konkurrenzdenken geprägt sind. Guck mal bei dir, inwiefern du das ablegen kannst.

Im Grunde hast du ja selbst schon gemerkt, dass es viel mit deinen schlechten Startbedingungen zutun hat, dass du dich jetzt so unzureichend fühlst. Das allein für sich genommen könntest du zum Anlass nehmen, dich damit zu versöhnen. Denn schließlich kannst du nichts dafür. Und du kannst auch nichts dafür, dass sich daraus dann auch eine bestimmte berufliche Biographie ergeben hat.

Du kannst natürlich auch sagen: Ich will es jetzt wissen! Und beruflich durchstarten! Vorausgesetzt, das möchtest du überhaupt. Wenn du eigentlich zufrieden bist mit deinem Job bzw. Beruf, dann solltest du dich sehr glücklich schätzen. Es gibt genug Leute, die sich unwohl und gestresst bei der Arbeit fühlen, egal mit welcher Qualifikation.

Ganz wichtig: Niemand von außen sagt dir offenbar, dass du weniger erreicht hast. Das bist allein du! Das bedeutet aber im guten Sinne, dass du diese Negativspirale durchbrechen kannst.
Ich kann dir noch raten, das Vergleichen sein zu lassen - sobald die Gedanken kommen, lasse sie nicht zu! Dazu kannst du auch hier etwas lesen: https://mein-kummerkasten.de/293993/Feedback-zu-http-mein-kummerkasten-de-293933-Sie-ist-besser-als-ich-html.html
Es gibt verschiedene Bücher, die um das bewusste Verändern von Gedanken drehen. Wenn du gerne mit Büchern arbeiten möchtest, kannst du dich auf dem Buchmarkt umsehen.

Eine andere Strategie ist, dass du deine eigenen Stärken auflistest und dir diese immer wieder vorsagst. Und glaube mir: Du wirst sehr viel finden, wenn du ehrlich und wohlwollend über dich nachdenkst. Dazu kannst du sehr gerne auch dein Umfeld befragen und darüber nachdenken, welches Lob du z.B. bei der Arbeit erhältst. Du baust dir somit ein Stärkeschild auf, an dem alle Minderwertigkeitsgefühle abprallen!

Sei dir sicher: Alle sind irgendwo "besser" als Andere. Auch du kannst Manches eindeutig besser als z.B. dein Nachbar oder deine Cousine. Aber ist das nicht eigentlich völlig unwichtig?

Interessant wäre es auch, wenn du mit deinen Verwandten sprechen und ihnen einmal davon erzählen würdest. Ich kann mir vorstellen, dass dich dies sehr erleichtern würde und es für dich eine spannende Erfahrung wäre, auch von ihnen zu hören, dass sie sich teilweise als unzureichend für ihren Job fühlen, dich für bestimmte Eigenschaften bewundern und ihre eigenen Errungenschaften gar nicht so genießen können... denn all das ist normal und kommt hin - und wieder vor, manchmal auch dauerhaft. Und so wie du deine Empfindungen für dich behalten hattest, so tun es eben auch Andere. Außer, man spricht einfach mal drüber und merkt, wie befreiend es ist, mal alles zu zeigen und sich zu offenbaren! So kann man auch wieder neue Kraft schöpfen, um im herausfordernden Beruf zu bestehen oder die Unsicherheit schrumpfen zu lassen.

Für mich klingt es so, als könntest du eventuell davon profitieren, auch jemanden an deiner Seite zu haben, um über einen bestimmten Zeitraum hinweg auf deine Wünsche, Bedürfnisse und Ziele zu gucken und dann zu schauen, wie du so leben kannst, dass du zufrieden und erfüllt bist. Dafür sind psychologische Beratungen bzw. Coachings super. Es werden verschiedene Techniken angewandt, um an die Ursachen der Schwierigkeiten zu stoßen und an einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen.

Im Archiv findest du zu den Stichworten "Selbstbewusstsein" und "Selbstliebe" noch viele weitere Zuschriften zum Weiterlesen.

Ich wünsche dir alles Liebe!
Nuala